Auto- und Heterorepräsentationen Afrikas im öffentlichen Raum (München) – linguistische Perspektiven zur Analyse (post-)kolonialer Diskurse




Wenn über Afrika berichtet wird, bleibt uns kein Klischee erspart, im Guten wie im Schlechten. Es ist entweder ein traumschöner Erdteil, ein Naturparadies, dessen fröhliche Bewohner immerzu singen und trommeln und beneidenswert gut tanzen. Oder es ist ein Ort der Gewalt und des Schreckens, der Fiebersümpfe, des mörderischen Chaos, eine Bluthölle, in der Warlords und Kindersoldaten wüten und himmelschreiendes Elend herrscht. (Grill 2021, 17)

1. Theoretisch-methodologische Ansätze zur Analyse (post-)kolonialer Diskurse im öffentlichen Raum

    1. Perzeptionslinguistik (vgl. Krefeld/Pustka 2010; Krefeld/Pustka 2014):
      • sprachliche Realisierungen werden von Sprecher*innen wahrgenommen (Perzeption) und zu kognitivem und affektivem Sprachwissen (Repräsentationen, Einstellungen)
      • sprachliche Repräsentationen existieren über die Anderen oder die eigene peer group (Auto vs. Hetero)
      • methodologisch problematisch: Kategorisierung Auto vs. Hetero (z.B. Deutsche mit afrikanischen Wurzeln, PoC in München ≠ Afrika, usw.)
      • fortwährende Aktualisierung > z.B. durch Bewegung im kommunikativen Raum
    2. Linguistic landscape

      The language of public road signs, advertising billboards, street names, place names, commercial shop signs, and public signs on government buildings combines to form the linguistic landscape of a given territory, region, or urban agglomeration. (Landry/Bourhis 1997, 25)

      • wird oft rein quantitativ in Bezug auf das Vorhandensein von Sprachen verwendet
      • hier: stärkerer Fokus auf Versprachlichungsstrategien und ihre Muster im öffentlichen Raum (Georeferenzierung) [Wo wird wie über Afrika geschrieben?]
      • Schilder und Beschriftungen oft nicht nur Schriftcode [zusätzlich häufig: Bildcode, usw.] ➡ Bild-Text-Verhältnis (hier nach Stöckl 2006: additiv, komplementär, ...]
    3. Frame-Semantik

      Von Charles Fillmore entwickelter Formalismus zur semant. Beschreibung lexikal. Einheiten, die untereinander zu einem semant. Netz verknüpft sind. (Glück 2016, 208 / 'Frame-Semantik')

      • unterschiedliche Wortarten können einen FRAME hervorrufen (= Unterschied zum Wortfeld), z.B. einleitendes Zitat (NATURERLEBNIS/ABENTEUER, KULTUR, KRISE):

        Wenn über Afrika berichtet wird, bleibt uns kein Klischee erspart, im Guten wie im Schlechten. Es ist entweder ein traumschöner Erdteil, ein Naturparadies, dessen fröhliche Bewohner immerzu singen und trommeln und beneidenswert gut tanzen. Oder es ist ein Ort der Gewalt und des Schreckens, der Fiebersümpfe, des mörderischen Chaos, eine Bluthölle, in der Warlords und Kindersoldaten wüten und himmelschreiendes Elend herrscht. (Grill 2021, 17)

2. Die Datenlage: Präsentation des Beispielkorpus

2.1. Auto- vs. Heterorepräsentation

2.2. Thematisierte Länder und Regionen im Korpus

  • am häufigsten: unspezifischer Bezug auf den gesamten Kontinent, angezeigt durch Lexeme afro, Africa, Afrika oder durch Bildbezug (Abbildung des Kontinents) - 35x (= ca. 50%)
  • darüber hinaus wird selten Bezug auf afrikanische Großzonen genommen, durch Nennung der Lexeme Ostafrika, Westafrika oder südliches Afrika (3x)
  • länderspezifische Bezüge finden sich immerhin in 2/3 der Belege (45x), zum einen durch direkte Nennung eines SSA-Landes oder des dazugehörigen Adjektivs, zum anderen durch indirekte Bezüge, z.B. historische Bezüge (z.B. Deutsch-Südwestafrika) oder Nutzung von Lexemen aus afrikanischen Sprachen, die regional eingrenzbar sind (z.B. Bar Ntanta = Igbo = Nigeria)

Karte: länderspezifische Bezüge (SSA-Länder) im Beispielkorpus (direkte und indirekte Bezüge)

3. Linguistic Landscape I: Mehrsprachigkeit im städtischen Raum

Häufigkeit der Sprachen im Beispielkorpus:

Sprache Häufigkeit des Auftretens (in %)
Deutsch
Englisch
Französisch
Amharisch
Afrikaans, Ewé, Duala, ?Igala, Igbo, Suaheli

92.6
33.8
7.4
5.9
je 1.4

  • einsprachig: deutsch
  • einsprachig: englisch
  • zweisprachig: deutsch-englisch
  • zweisprachig: deutsch-französisch
  • dreisprachig: deutsch-englisch-französisch
  • mehrsprachig: afrikanische Sprache + weitere (4x Amharisch, je 1x: Afrikaans, ?Igala, Igbo, Suaheli, Ewé)
  • einsprachig: afrikanische Sprache (1x Duala)

(zur Erinnerung: Auto- vs. ▲ Heterorepräsentation)

4. Linguistic landscape II: Semantische FRAME-Analyse

Folgende Frames wurden hinsichtlich Ihres Vorhandenseins (sprachlich, außersprachlich) analysiert:

  • KULTUR: 27
  • KRISE: 25
  • ABENTEUER: 22
  • PARTNER: 17
  • LUXUS: 17
  • FAUNA: 15
  • SCHÖNHEIT: 12
  • LÖSUNG: 10
  • URBANITÄT: 6

4.1. Frame KRISE

(zur Erinnerung: Auto- vs. ▲ Heterorepräsentation)

Insgesamt finden sich 25 Belege (37%), in denen der Frame KRISE versprachlicht wird. In 9 der 25 Fälle wird die KRISE auch durch eine bildliche Darstellung begleitet (i.d.R. additiver Bezug). In der Autorepräsentation wird die KRISE immer durch money transfer angezeigt (4x). Zeitlich finden sich Bezüge sowohl auf aktuelle wie auf historische KRISEN:

  • Bezug: aktuelle KRISE
  • Bezug: historische KRISE
  • Bezug: aktuelle und historische KRISE

4.2. Frame: ABENTEUER

(zur Erinnerung: Auto- vs. ▲ Heterorepräsentation)

Insgesamt finden sich 21 Belege (31%), in denen der Frame ABENTEUER versprachlicht wird. In 11 der 21 Fälle (> 50%) wird das ABENTERUER entweder durch eine bildliche Darstellung begleitet (= additiver Bezug) oder sogar erst zusätzlich evoziert (= divergenter Bezug). Sprachlich wie bildlich kann das ABENTEUER in 2 Stufen auftreten:

  • Stufe I: Darstellung von (ursprünglicher) Natur
    (z.B. Lexeme Berg, Insel, Savanne oder Bild einer Wüste oder Steppe)
  • Stufe II: Darstellung des menschlichen Naturerlebnisses
    (z.B. Lexeme erleben, Afrikaforscher, tours, Safari, usw. oder Kollokationen wie auf den Spuren wandern, etc.)

4.3. Frame: FAUNA

(zur Erinnerung: Auto- vs. ▲ Heterorepräsentation)

Semantisch eng verbunden mit dem Frame ABENTEUER ist der Frame FAUNA (d.h. Bezug zur Tierwelt Afrikas), doch gibt es funktional deutliche Unterschiede. Insgesamt finden sich 15 Belege (= knapp 1/4), in denen der Frame FAUNA versprachlicht oder verbildlicht wird:

  • rein sprachliche Verfahren
    (z.B. Lexeme Elefant(enbier), Silberrücken, Zebra)
  • kombinierte sprachlich-bildliche Verfahren
    (z.B. Lexeme Safaris in Verbindung mit der Darstellung einer Gazelle im Firmenlogo)
  • rein bildliche Verfahren
    (z.B. Tierdarstellungen in Firmenlogos: Giraffe (3x), Elefant (2x), Gazelle (2x), Löwe (2x), usw.)

4.4. Frame: KULTUR

(zur Erinnerung: Auto- vs. ▲ Heterorepräsentation)

Der Frame KULTUR ist der am stärksten vertretene Frame im Korpus (ca. 40%). Auffallend ist hierbei, a) dass fast alle KULTUR-Belege einen aktuellen Bezug haben (96 %), und b) dass der kulturelle Bezug in 1/4 der KULTUR-Belege rein bildlich hergestellt wird (Produkte im Schaufenster, etc). Folgende Kulturdomänen finden Berücksichtigung:

  • Lebensmittel und afrikanische Küche
  • Stoffe und Kleidung, Schmuck, Möbel
  • Bildende Kunst, Musik und Tanz

4.5. Frame: LUXUS

(zur Erinnerung: Auto- vs. ▲ Heterorepräsentation)

In gut einem Viertel der Belege wird der Frame LUXUS aktiviert. In allen Fällen handelt es sich um eine kommerzielle Strategie, die häufig nicht direkt versprachlicht wird:

  • direkte Versprachlichung
    (z.B. Attribuierungen durch Adjektive oder Komposita; vgl. edel, besondere, exklusiv, royal, fein in Feinkost, usw.)
  • indirektes Verfahren über Bild/Gestaltung
    (z.B. Schaufenstergestaltung ohne Preisangaben oder mit Preisangaben über 1.000€, Hochglanzschilder)

5. Zusammenfassung

Im betrachteten Sample stehen sich koloniale und postkoloniale Versprachlichungsstrategien gegenüber:

  1. Die Präsenz Afrikas im öffentlichen Raum München scheint recht gering zu sein. Am häufigsten finden sich Bezüge zu Ländern, die aus ehemaligen deutschen Kolonien hervorgegangen sind sowie zu Äthiopien, Westafrika (hoher Bevölkerungsanteil) und dem südlichen Afrika (Tourismus).
  2. Auto- vs. Heterorepräsentationen:
    • MEHRSPRACHIGKEIT: Auto: lokal mehrsprachig (v.a. englisch, aber auch französisch oder afrikanische Sprachen) vs. Hetero: territorial einsprachig
    • Afrika = KRISE: in Heteroperspektive stark präsent (aktuelle wie historische Bezüge), in Autoperspektive beschränkt auf money transfer
    • Afrika = ABENTEUER: fast ausschließlich heterorepräsentativ vorhanden
    • Afrika = FAUNA ("Big Five"): kommerziell in Auto- und Heteroperspektive vorhanden, v.a. in bildlichen Verfahren (Logos)
    • Afrika = KULTUR: vor allem autorepräsentativ genutzt, insbesondere in Bezug auf Ess-KULTUR
    • Afrika = LUXUS: erneut sowohl in Auto- und Heteroperspektive vorhanden, kommerzielle Strategie
  3. Zentrum vs. Peripherie:
    • ▲ Zentrum: Auto- und Heterorepräsentationen nebeneinander, ausgeprägtere Mehrsprachigkeit, zusätzlicher Fokus auf KULTUR, LUXUS;
    • Peripherie: fast nur heterorepräsentativ, KRISE und ABENTEUER stärker vorhanden (aber oft kritisch kommentiert), kaum Bezüge auf afrikanische KULTUR oder LUXUS-Produkte afrikanischer Herkunft.

6. Ausblick: Problematik der Datenlage, crowdsourcing

In Anlehnung an (Purschke 2017, 182 f.) sind die gesammelten Daten in mehrfacher Hinsicht zumindest diskussionswürdig und die Gefahr einer Übergeneralisierung der Ergebnisse muss vermieden werden:

  • Dynamik der linguistic landscape: die Sprache im öffentlichen Raum ist veränderlich (fortwährend neue Namen, Schilder, Schaufenster, Graffiti) - die getroffenen Aussagen sind demnach Beispiele für öffentliche und kommerzielle (nicht subversive) Schilder und Beschriftungen im Zeitraum Ende August bis Anfang Oktober 2021
  • Position der Datensätze im öffentlichen Raum: hier z.B. zentral (44 %) vs. peripher (56 %) im Straßenbild sichtbar
  • keine Repräsentativität in Bezug auf Gesamtheit aller Schilder und Beschriftungen bzw. auf die Größe der gesamten Sprecherschaft > Tendenzen
  • Detailgenauigkeit der Zeichen im öffentlichen Raum: hier fehlen z.B. Para- und Metabeschriftungen (z.B. Hersteller, Kommentare [Sticker, Übermalungen, ...])
  • Zugänglichkeit der Daten: sollte z.B. das Verständnis mehrsprachiger Zeichen vorausgesetzt werden?
  • Kategorienraster: in der Regel nicht aus der Sprechergemeinschaft kommend (emisch), sondern von den Forschenden gesetzt (etisch) (zu emisch/etisch vgl. Pike 1967)
  • Legale Zwänge, z.B. Copyright auf Bilder und Fotos (hier daher geschützte Umgebung), erschwert den Open Access-Zugang zu den Daten
  • Datenauswertung und -analyse: je mehr Daten, desto komplexer die Auswertung, daher Gefahr von Übergeneralisierung

Lösungsansatz (vgl. ebenfalls Purschke 2017): crowdsourcing (vgl. z.B. App LINGSCAPE)

➡ dynamischer Ansatz (fortwährende Aktualisierung), periphere Daten werden eher erfasst, Steigerung der Repräsentativität durch Erhöhung der Daten, damit auch mehr Detailgenauigkeit und stärker emischer Ansatz (wenn User selbst taggen/kommentieren)

 

 

Bibliographie

  • Glück 2016 = Glück, Helmut (Hrsg.) (52016): Metzler Lexikon Sprache, Stuttgart, Metzler, 699.
  • Grill 2021 = Grill, Bartholomäus (2021): Wir Herrenmenschen. Unser rassistisches Erbe: Eine Reise in die deutsche Kolonialgeschichte, München, Pantheon [Taschenbuchausgabe; Originalausgabe Siedler 2019].
  • Krefeld/Pustka 2010 = Krefeld, Thomas / Pustka, Elissa (2010): Für eine perzeptive Varietätenlinguistik, in: Krefeld, Thomas / Pustka, Elissa (Hrsgg.), Krefeld/Pustka 2010c, 9-28.
  • Krefeld/Pustka 2014 = Krefeld, Thomas / Pustka, Elissa (2014): Einleitung. Welt, Wahrnehmung, Sprache: die perzeptive Grundlage der Linguistik, in: Krefeld, Thomas / Pustka, Elissa (Hrsgg.), Perzeptive Linguistik, Stuttgart, Steiner, 9 - 18.
  • Landry/Bourhis 1997 = Landry, R. / Bourhis, R. Y. (1997): Linguistic Landscape and Ethnolinguistic Vitality: An Empirical Study, in: Journal of Language and Social Psychology, vol. 16, 1, 23-49 (Link).
  • Pike 1967 = Pike, Kenneth Lee (1967): Language in relation to a unified theory of the structure of human behavior (second edition), Den Haag/Paris, Mouton.
  • Purschke 2017 = Purschke, Christoph (2017): Crowdsourcing the linguistic landscape of a multilingual country. Introducing Lingscape in Luxembourg, in: Linguistik online 85, 6/17, 181-202 (Link).
  • Stöckl 2006 = Stöckl, Hartmut (2006): Zeichen, Text und Sinn – Theorie und Praxis der multimodalen Textanalyse, in: Eckkrammer, E.M./Held, G. (ed.), Textsemiotik. Studien zu multimodalen Medientexten (= Sprache im Kontext)., Frankfurt am Main, Peter Lang, 11-36 (Link).

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