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Methodik aus etischer Perspektive: die Atlanten

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Zitation: Thomas Krefeld (2022): Methodik aus etischer Perspektive: die Atlanten. Version 2 (14.06.2022, 10:59). Lehre in den Digital Humanities. , url: https://www.dh-lehre.gwi.uni-muenchen.de/?p=206325&v=2



1. Ethnolinguistische Typisierung kommunikativer Räume

Großräumig konzipierte Atlanten, die ihr Material mit einem standardisierten Fragebuch erheben, sind wohl grundsätzlich der etischen Perspektive verpflichtet; für den italoromanischen Raum gibt es  zwei Großprojekte, die sogar über Italien hinausreichen. Beide sind ethnolinguistisch angelegt, obwohl nur einer davon, der Sprach- und Sachatlas Italiens und der Südschweiz (AIS), das im Titel explizit zum Ausdruck bringt (vgl. zum AIS Krefeld 2018k, Kap. 2-10). Der immer noch nicht vollständig publizierte Atlante  linguistico italiano (ALI) liegt auf genau derselben Linie (vgl. den punktuellen Vergleich beider Atlanten in Krefeld 2020v).

Aus ethnolinguistischer Sicht führt diese Konzeption sofort in ein Dilemma, denn es werden zwar de facto ganz unterschiedliche Alltagswelten impliziert, aber die eigentlichen Unterschiede, d.h. die jeweiligen Besonderheiten als solche können nicht erfasst und dokumentiert werden, da sie sich dem Einheitsfragebuch entziehen. Es ist aber wichtig darauf hinzuweisen,  dass die alltagsweltlichen Divergenzen sich durchaus sozialräumlich abbilden ließen und insofern mit der diatopischen Visualisierungslogik der Gattung ‘Atlas’ durchaus  kompatibel sind.

Ethnolinguistische Typisierung alltagsweltlicher Kommunikationsräume
urban rural maritim
  ackerbäuerlich (‘arabel’)  pastoral  

Da diese Raumkonfigurationen aber nicht mit derselben Genauigkeit erfasst wurden, sind auch die monumentalen Atlanten in ethnolinguistischer Hinsicht immer mehr oder weniger selektiv. 

2. Urbane Kommunikationsräume

Es ist keineswegs trivial festzuhalten, dass sowohl der AIS wie auch der ALI die großen Städte in ihre Ortsnetze aufgenommen haben (Link zum Netz des AIS; Link zum Netz des ALI). Allerdings werden die Metropolen  im Prinzip genauso behandelt wie kleinste Weiler, denn es gilt auch hier die Grundregel des Einzelinformanten1, so dass markante Unterschiede zwischen den Stadtvierteln nicht dokumentiert werden, obwohl sie den Exploratoren bewusst waren2.

Gravierender ist aber die Tatsache, dass sich die städtische Realität bereits vor knapp 100 Jahren, d.h. zu Zeit der Datenerhebung, im Fragebuch des AIS überhaupt nicht und in dem des ALI nur ganz andeutungsweise widerspiegelt; immerhin zeigt der Überblick über den Inhalt des ALI-questionario ein teilweise potentiell relevantes Kapitel:

Auszug aus dem Sommario del questionario ALI (Quelle); die Ziffern links beziehen sich auf abgefragten voci

Bei genauerem Hinsehen zeigt sich jedoch ein totales Desinteresse an der modernen, d.h. damals vor allem städtischen Alltagswelt, wie am Teilbereich TRANSPORT (im ALI als VEICOLI E VIAGGIO tituliert) gezeigt werden soll: Der ALI hat die Stimuli des Fragebuchs zur Absicherung der Erhebung teils mit Abbildungen versehen, die für den gewählten Ausschnitt wie folgt aussehen:

Illustrazioni zur Erhebung der voci 1604-1617 des ALI (VEICOLI E VIAGGIO)

llustrazioni zur Erhebung der voci 1618-1667 des ALI (VEICOLI E VIAGGIO)

Einen vergleichbaren Eindruck liefert auch der AIS (vgl. z.B. Karte 1223 IL CARRO A QUATTRO RUOTE). Die onomasiologischen Defizite zeigen sich sofort, wenn man die erfasste Realität mit zeitgenössischen Photos des städtischen Raums abgleicht. Das folgende Photo stammt aus den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts, also aus der Zeit in der die AIS-Daten abgefragt wurden; es zeigt einen offensichtlich wenig spektakulären, ganz ‘normalen’ Platz von Turin; dort wurden im Juli 1922 und im Oktober 1927 zwei AIS-Sprachaufnahmen gemacht (vgl. Jaberg/Jud 1928, 56)

Photo 1: Piazza Francesco Borromini, Turin, 20er Jahre des letzten Jahrhunderts (Quelle: Torino anni '20)

Das Bild zeigt diverse Arten von Autos, Trambahnen, Oberleitungen, elektrische Straßenleuchtungen, Markisen usw. - von all dem findet sich nichts, denn diese ‘Sachen’ wurden als vollkommen irrelevant eingeschätzt, obwohl Turin bereits stark industrialisiert war; die Fabbrica Italiana Automobili Torino (FIAT) war bereits 1899 gegründet worden (Link) und Lancia folgte 1906 (Link).  Ein Blick auf das neue Werksgebäude von FIAT aus dem Jahre 1928 (im Stadtteil Lingotto) mit Teststrecke auf dem Dach des Fertigungsgebäudes gibt einen Eindruck von der metropolitanen Modernität der Stadt.

/var/cache/html/dhlehre/html/wp content/uploads/2016/04/1461679414 Fiat Lingotto veduta 1928

Photo 2: Fiat-Werksgebäude im Turiner Stadtviertel Lingotto, Photo aus dem Jahr 1928 (Link)

Eine zentrale Rolle für das Funktionieren der modernen Alltagswelt, die sich vor allem ausgehend von den Städten verbreitete, spielen zweifellos die bereits auf dem Photo 1 identifizierte Nutzung der Elektrizität und die teils auch dadurch geschaffenen neuen Transportmittel.  Beide werden durch die Selektion ausschließlich traditioneller Lebenswelten ebenso vollkommen ausgeblendet, wie die Nutzung der Massenmedien; nebenbei bemerkt war Turin - ebenfalls in den 20er Jahren - auch der Sendeort für die ersten italienischen Radiosendungen (Link).

2.1. Beispiel ELEKTRIZITÄT

Im Band V des AIS wird u.a. die BELEUCHTUNG behandelt; dazu wurden die folgenden Bezeichnungen abgefragt: 

/var/cache/html/dhlehre/html/wp content/uploads/2016/04/1461660908 AIS illumin

AIS V - Sachfeld ILLUMINAZIONE (deu. Übers, Th.K.)

Die zugehörigen Gegenstände sind u.a. auf einem Photo aus Disentis (Graubünden) vom 9.10.1935, dokumentiert (zugänglich über das AIS-Archiv der Universität Bern):

/var/cache/html/dhlehre/html/wp content/uploads/2016/04/1461661098 AIS illumin2

Photos zum Sachfeld ILLUMINAZIONE aus Disentis

Auf diese Art und Weise wurde eine Alltagswelt dokumentiert, die zum Zeitpunkt ihrer Dokumentation bereits im Untergang begriffen war und weithin - wenngleich nicht überall - wohl bereits der nurmehr erinnerten Sachkultur angehörte. Im Titel von AIS 915 heißt es:

/var/cache/html/dhlehre/html/wp content/uploads/2016/04/1461683172 AIS illumin3

AIS 915, Titel und Titelkommentar

Ein Blick auf die zugehörige Karte zeigt, dass die Bezeichnung der Öllampe in den meisten Orten Oberitaliens und der Südschweiz nicht mehr ermittelt werden konnte, denn es finden sich keine Belege neben den roten Kennziffern der Erhebungsorte:

/var/cache/html/dhlehre/html/wp content/uploads/2016/04/1461683269 AIS illumin4

AIS 915, Beleglücken

Dort, wo noch Bezeichnungen belegt sind, entsprechen sie jedoch meist dem Typ lume, d.h. dem Wort für das künstliche Licht schlechthin; die Öllampe erscheint, mit anderen Worten, in diesen Mundarten noch als die normale und selbstverständliche Quelle künstlichen Lichts:

/var/cache/html/dhlehre/html/wp content/uploads/2016/04/1461684195 AIS illumin5

Ausschnitt AIS 915 (P = Como)

Natürlich war es den Herausgebern und  Exploratoren des AIS bewusst, eine Zeit des radikalen alltagsweltlichen Umbruchs zu dokumentieren. Vor allem Paul Scheuermeier hat sich im Zusammenhang mit der Beschreibung der traditionellen Beleuchtungstechnik explizit zur Ausblendung der Elektrizität und konkreten Elektrifizierung geäußert:

"Illuminazione moderna
Non rientra nelle intenzioni dell'autore di illustrare lo sviluppo della moderna tecnica dell'illuminazione. […] Le seguenti informazioni, che tuttavia non sono state ricercate sistematicamente, ma furono registrate solo casualmente da alcuni informatori, possono fornire indicazioni utili circa l'introduzione della luce elettrica. L'illuminazione elettrica è stata introdotta: P. 146: nel 1895 (secondo la testimonianza prima dell'illuminazione elettrica pubblica di Torino); P. 187: negli anni novanta; P 322, 330: 1901; P. 224, 654, 761: verso il 1912; P 637: 1922 (nel paese); P. 740: poco prima del 1930. – Non esisteva ancora la luce elettrica P 393: nel 1921; P. 378: nel 1922; P 189 (presso contadini): nel 1923; P. 564 (presso contadini): nel 1924; P 454: nel 1928; P. 247 (presso contadini): nel 1928; P. 247 (presso contadini): nel 1932. Rilevamenti più precisi avrebbero sicuramente accertato che molte località, e soprattutto molte fattorie sperdute, erano ancora senza illuminazione elettrica nel 1930." (Scheuermeier 1980, 88)

Ohne dies ausdrücklich zu sagen, hat Scheuermeier erkannt, dass die Elektrifizierung von seinen Informanten als bedeutsame Veränderung wahrgenommen wurde. Sie liefert zweifellos einen grundlegenden Indikator, um die relative Modernität | Archaizität der Untersuchungsorte zu taxieren. Wenn man die wenigen, eher zufälligen Daten, die Scheuermeier liefert, kartiert, ergibt sich das folgende Bild:

/var/cache/html/dhlehre/html/wp content/uploads/2016/04/1461663958 AIS illumin elettr

In (Scheuermeier 1980, 88) dokumentierte Einführung der Elektrizität

Wie man sieht, liegen zwischen benachbarten Aufnahmeorten oft mehrere Jahrzehnte (vgl. die beiden Orte in Ligurien östlich von Genua). Im Lichte der digital humanities wäre es wünschenswert, systematisch entsprechende Daten (z.B. zum Ausbau des Eisenbahnnetzes) zu suchen, die geeignet sind, einen Beitrag zur alltagsweltlichen Kontextualisierung der Sprachdaten zu liefern; es ist ja unter anderem auch zu berücksichtigen, dass sich durch den Ausbau des Schienenverkehrs  die Mobilität der Sprecher und der interregionale Austausch deutlich - aber mit sehr großen regionalen Unterschieden - intensivierte (vgl. diese Karte der Eisenbahnstrecken des Jahres 1870). Es hätte sich daher angeboten die Entfernung der Aufnahmeorte vom nächstgelegenen Bahnhof fetshalten. 

2.2. Fehlanzeige: urbane Ethnolinguistik

Zwar entwickelten sich einige Jahrzehnte nach den großen Atlasprojekten Ansätze sowohl zu einer Stadtdialektologie wie zu einer städtischen Soziolinguistik (vgl. Krefeld 2008b),  aber im Rückblick muss man feststellen, dass sich eine umfassende Ethnolinguistik des großstädtischen Kommunikationsraums niemals herausgebildet hat. Manche aus heutiger Sicht sehr naheliegende Fragestellungen, wie z.B.

  • diatopische Unterschiede zwischen unterschiedlichen Stadtvierteln in Verbindung  mit den vollkommen neuen industriellen Alltags- und Arbeitswelten,
  • die neuen kulturellen Muster, die sich aus dem spezifisch urbanen Tages- und Wochenrhythmus ergeben (etwa das Freizeit- und Wochenendverhalten und die Massensportarten wie Fußball),
  • die konsumorientierte Umgestaltung des öffentlichen Raum (gallerie [Link], caffè bar usw.) mit spezifischer Pragmatik (Grüßen, Höflichkeit, Handeln auf dem Markt usw.),

wären schon mit der Methodologie der traditionellen Sprachatlanten zu bewerkstelligen gewesen: Eine Vermehrung der Informanten und ein stadtspezifischer Teil des Fragebuchs hätten gereicht. Andere Fragestellungen waren im Horizont der Linguistik nicht vorgesehen; so kam es niemals zu einer migrations- und kontaktlinguistischen Beschreibung der inneritalienischen Arbeitsmigration aus dem Süden in den Norden und nicht zuletzt nach Turin. Die Statistik ((vgl. Ferraris 2011) zeigt einen massiven Bevölkerungsanstieg nach 1950, der wohl ganz überwiegend dialektophone ländliche Sprecher mit geringer Standardkompetenz  in die Industriegebiete des triangolo industriale und dort womöglich in spezifische Wohngebiete brachte.3 Ein Indiz für ihre sprachliche Stigmatisierung ist z.B. die abfällige Bezeichnung eines Süditalieners als terrone (Link), die im Bewusstsein des Städter gewiss durch die Assoziation mit der ländlichen (terra) und daher vormodernen Herkunft zahlreicher Süditaliener motiviert war. Sehr deutlich in der Wahrnehmung kultureller Divergenz, nämlich in Ernährungsgewohnheiten, motiviert ist im Übrigen auch die nicht weniger abwertende, komplementäre Fremdbezeichnung polentoni ‘Polentaesser’  (Link), mit der Norditaliener von Süditalienern belegt wurden. In neuerer Zeit haben sich mit der sogenannten Linguistic Landscape-Forschung (vgl. diese Vorlesung) und der Erfassung der neuen Mehrsprachigkeit im Zuge von Arbeitsmigration ( new minorities, expats) und Massenflucht weitere Forschungsfelder eröffnet, die vor allem (wenn auch nicht ausschließlich) im urbanen Raum verortet sind.

2.3. Kurzer Exkurs zum Atlante Lingvistic Romîn

Ein wenig aufgeschlossener als die westromanischer Sprachatlanten erweist sich der Atlasul lingvistic romîn (Pătruţ 1961), für den in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts damals moderne Konzepte wie AUTOMOBIL, FAHRRAD, BAHNHOF, ZUG, EISENBAHNSCHIENE,  BRIEFMARKE, POSTANWEISUNG, TELEGRAMM und einige andere abgefragt wurden. Die Karte 862 AUTOMOBIL zeigt exemplarisch, dass auch dergleichen neue Konzepte durch etliche Geosynonyme bezeichnet werden, die teils auffällig variieren:

ALR  862 AUTOMOBIL (Pătruţ 1961)

Folgende Typen sind belegt:

  • auto
  • automobíl (Varianten: untomobil, motobil, tomobil)
  • automóbile
  • mask. motor, fem.motuoră
  • maşină

Es zeichnen sich dahinter sowohl spontane Bildungen (untomobil, wohl motiviert durch rum. unt ‘Butter’) wie unterschiedliche  Entlehnungswege ab, denn automobíl, aus dem Fra. aber mindestens teilweise über das Deu. vermittelt, steht neben automóbile mit italienischem Akzent; maşină  erinnert ebenfalls an das Ita. (vgl. ita. macchina), obwohl der Akzent des italienischen Wortes auf der ersten Silbe liegt; im Übrigen bezeichnet  aber dieser  Typ auch den EISENBAHNZUG bzw. die LOKOMOTIVE (vgl. die Karten 867, 871).

3. Rurale Kommunikationsräume

In der Ausblendung der städtischen Alltagswelt zeigt sich das ethnolinguistisch selektive - wenn nicht beschränkte - Interesse der klassischen Sprach- und Sachatlanten. Im AIS wurden die folgenden nach Bänden geordneten Themenfelder erfasst:

  1. CARTE TOPONOMASTCHE, PARENTELA, ETÀ, AMORE / NASCITA / MATRIMONIO e MORTE, NOMI DI BATTESIMO, LE PARTI DEL CORPO, FUNZIONI DEL CORPO, QUALITÀ E DIFFETI FISICI
  2. MESTIERI ED ARNESI, IL COMMERCIO, NUMERI, TEMPO E SPAZIO, CORPI CELESTI, FENOMENI ATMOSFERICI
  3. MINERALI, CONFIGURAZIONE DEL SUOLO ED ACQUE, ANIMALI, CACCIA E PESCA, SILVICULTURA ED ARNESI DELLO SPACCALEGNA, PIANTE
  4. RIPOSO E TOELETTA, MALATTIE E GUARIGIONE, DIFETTI / QUALITÀ MORALI E SENTIMENTI, VITA RELIGIOSA E SOCIALE
  5. CASA E MASSERIZIE, CIBI, MANGIARE E BERE
  6. ALLEVAMENTO DEL BESTIAME, APICOLTURA, BACHICOLTURA, PASCOLO E ALPEGGIO, CARRO GIOGO E FINIMENTI
  7. GLI ALBERI FRUTTIFERI E I FRUTTI, LA VITICOLTURA E LA VINIFICAZIONE, LA FABBRICAZIONE DELL'OLIO, L'ORTO E IL GIARDINO / ERBAGGI E LEGUMI, LA COLTIVAZIONE DELLE PATATE, LA FIENAGIONE, GLI ARNESI DEL FALCIATORE, IL PRATO E IL CAMPO, L'IRRIGAZIONE E IL CAMPO, I CEREALI E LA LORO COLTIVAZIONE, LA TREBBIATURA, LA MONDATURA E LA CONSERVAZIONE DEL GRANO
  8. PANIERI, LAVORAZIONE DELLA CANAPA E DEL LINO, FILATURA E TESSITURA, BUCATO, CUCITURA, VESTIMENTO E CALZATURA, AGGETTIVI, FRASI: BRANI DI CONVERSAZIONE, TAVOLE DELLA CONIUGAZIONE

Eindeutig im Vordergrund steht die ländliche Lebenswelt mit den zugehörigen Handwerken. Das sehen die Herausgeber selbst, so dass es unangemessen wäre daraus einen Vorwurf abzuleiten:

"Unser Fragebuch ist auf ländliche Verhältnisse zugeschnitten. So ergab es sich von selbst, dass als Auskunftgeber vor allem Bauern gewählt werden mussten, Leute, die wenigstens ein bisschen Landwirtschaft getrieben haben mussten oder solche, die mit den bäurischen Verhältnissen vertraut waren." (Jaberg/Jud 1928, 190)

Dieser Bereich wird mit bewundernswerter Genauigkeit beschrieben; allerdings geht die Selektivität weit über die Festlegung der Themenbereiche hinaus, denn sie ist einem sehr strengen Traditionalismus unterworfen, der von der ethnographisch leicht verständlichen und sinnvollen Absicht getragen wird, eine untergehende Alltagskultur zu dokumentieren und der weiterhin mit der Überzeugung einhergeht, die Modernisierung der Alltagswelt führe mehr oder weniger automatisch zur Erosion des Dialekts und zum Übergang zu standardnahen Varietäten (eng. dialect levelling). Eine stichhaltige Erklärung für die totale Vernachlässigung  der konkurrierenden und verdrängenden Neuerungen mitsamt ihrer Bezeichnungen, die im Zuge der Mechanisierung und Motorisierung Einzug hielten, ist damit jedoch keineswegs gegeben - man wird sie eher in einer womöglich nicht streng reflektierten Verbindung romantischer und ideologischer Voreinstellungen vermuten. Inzwischen hat es sich erwiesen auch die Bezeichnung von Sachen der modernen Alltagswelt keineswegs einheitlich ist, sonders durchaus diatopische Varianz kennte (vgl. die Ergebnisse des ALIQUOT; LINK).  Ein schönes Beispiel für die traditionalistische Grundhaltung der dialektotologischen Ethnolinguistik liefert der bereits angesprochene Bereich des TANSPORTs. 

3.1. Beispiel TRANSPORT

Manche Kulturtechniken zeigen in Italien, ähnlich wie die Dialekte, komplementäre räumliche Verbreitung. Sehr gut dokumentiert sind die unterschiedlichen Arten des Tragens, nämlich: 

  1. "Con le mani, al braccio o sotto il braccio
  2. Sulla testa […] diffuso e specifico in tutta la penisola […]
  3. Su una spalla
  4. Sul fianco
  5. Sulla nuca […] assai comune nella zona alpina […]
  6. Sul dorso" (Scheuermeier 1980, 93-118)

Die dafür verwandten Tragegeräte (Körbe, Säcke, Gestelle, Kissen) sind häufig ortsspezifisch. In einem Ort in der Romagna konstatiert Scheuermeier die Ablösung einer Technik (2) durch eine andere (3):

"S a l u d e c i o (Romagna) P 499: Al pozzo, poss. Le donne portano ancora la brocca dell'acqua, orć, sul capo; le ragazze che non lo sanno più fare, l'appoggiano all'anca." (Scheuermeier 1980, Photo 125) 

/var/cache/html/dhlehre/html/wp content/uploads/2016/04/1461672831 AIS Tragen1

TRAGEN, auf dem Kopf und auf der Hüfte (Quelle: AIS-Archiv)

Beim Tragen auf dem Nacken werden Stirnbänder und Nackenkissen verwandt:

/var/cache/html/dhlehre/html/wp content/uploads/2016/04/1461673204 AIS Tragen2

TRAGEN, im Nacken (Quelle: AIS-Archiv)

Bemerkenswert ist die sehr spezifische Verbreitung des Tragens auf dem Rücken; sie ist auf den alpinen Raum beschränkt. Zum Einsatz kommen unterschiedliche Tragegeräte, die wiederum regionalspezifisch sind (vgl. die folgende Karte aus Scheuermeier 1980, 2, 102): 

/var/cache/html/dhlehre/html/wp content/uploads/2016/04/1461685125 AIS Tragen4

TRAGEN, auf dem Rücken

/var/cache/html/dhlehre/html/wp content/uploads/2016/04/1461675926 AIS Tragen5

TRAGEN, Rückentragegeräte (Quelle: Scheuermeier 1980, 2, 100 f.)

Im Einzelnen wurden zahlreiche lokale Besonderheiten verzeichnet, wie zum Beispiel zur Verwendung des gerlo:

Legende zu AIS 1491 IL GERLO (Quelle)

Vor allem das Rückentragegestell ist auf den Kernbereich der Zentral- und Ostalpen beschränkt. Eine ganz erstaunliche Koinzidenz, bei der man nicht an einen Zufall glauben mag, besteht darin, dass schon die am Hauslabjoch, einem hochalpinen Übergang zwischen dem Vintschgau und dem Ötztal, gefundene, zwischen 3359 und 3105 v. Chr. gestorbene Gletschermumie (der so genannte Ötzi) ein Rückentraggestell bei sich führte - und das genau im Zentrum des neuzeitlichen Verbreitungsgebiets (die ungefähre Fundstelle ist auf der vorhergehenden Karte mit o gekennzeichnet)!  

4. Unvermitteltes Nebeneinander divergenter Alltgswelten

Die starke Spezialisierung auf  das Ländliche einerseits ohne andererseits städtische Aufnahmeorte auszuschließen führt dazu, dass extrem divergente Alltagswelten vollkommen unvermittelt nebeneinander stehen; darin muss man keinen Nachteil sehen, denn die intraregionale kulturelle Divergenz tritt so offen zutage. Extrem ist z.B. der Gegensatz in Piemont, zwischen der bereits kurz vorgestellten, industrialisierten und in mancher Hinsicht hochmodernen Hauptstadt Turin (= AIS P 155) und dem nach Südosten nächsten Aufnahmeort Corneliano d'Alba (= AIS 165) oft nur wenige Kilometer liegen.

/var/cache/html/dhlehre/html/wp content/uploads/2016/04/1461826410 AIS Torino Cornegliano

Benachbarte Aufnahmeorte mit grundverschiedenen Alltagswelten

P 155 Torino , P 165 Corneliano

Das AIS-Photoarchiv gestattet einen Einblick in noch existierende Wohnverhältnisse in Corneliano d'Alba (AIS P 165). Photo 779 zeigt die Außen- und Photo 880 die Innenansicht: 

/var/cache/html/dhlehre/html/wp content/uploads/2016/04/1461827104 AIS 165 Cornegliano aussen

Außenansicht einer Wohnung in AIS P 165 Corneliano (AIS-Archiv, Photo 779)

Das Photo stammt von Paul Scheuermeier, der den folgenden Kommentar dazu verfasst hat:

/var/cache/html/dhlehre/html/wp content/uploads/2016/04/1461828032 AIS Photo 779 Komm

Kommentar zum Photo 779 (Quelle: AIS-Archiv)

/var/cache/html/dhlehre/html/wp content/uploads/2016/04/1461825829 AIS 165 Cornegliano

Innenansicht einer Wohnung in AIS P 165 Corneliano (AIS-Archiv, Photo 880)

Der zugehörige Kommentar lautet:

/var/cache/html/dhlehre/html/wp content/uploads/2016/04/1461828204 AIS Photo 880 Komm

Kommentar zum Photo 880 (Quelle: AIS-Archiv)

Alle piemontesischen Photos (auch die beiden gezeigten) aus dem AIS-Archiv und die jeweiligen Kommentare in italienischer Übersetzung und im Original wurden durch Sabina Canobbio und Tullio Telmon (2007-2008) in einer sehr schönen und mit ausführlichen Beschreibungen angereicherten Buchausgabe veröffentlicht.

Der Informant aus Corneliano (der selbst nicht im gezeigten Haus wohnte) wird allerdings sprachlich als durchaus nicht altertümlich beschrieben:

"Bauer, Eltern alteinheimisch. - 39 - Hat immer im Dorfe gelebt. Als Vertreter der jüngeren Generation hat er schon verschiedene sprachliche Merkmale der älteren abgelegt. Sonst sachlich und sprachlich gut ausgewiesen." (Jaberg/Jud 1928, 58)

5. Wissenschaftler und Informant(en) in der Beobachtungssituation

Nebeneinander stehen nicht nur die unterschiedlichen beobachteten Alltagswelten, sondern selbstverständlich prallen in der Situation der Materialerhebung, die ja eine Beobachtungssituation ist, auch die Welten des Wissenschaftlers und des Informanten aufeinander; sie unterscheiden sich in jedem Fall epistemologisch, im Hinblick auf das verfügbare Wissen, aber häufig auch kulturell. Es ist sehr schwer zu beurteilen, wie stark die Künstlichkeit dieser Situation sich in der Qualität und Verlässlichkeit der Dokumentation - der dokumentierten Daten - niederschlägt. Grundsätzlich ist immer damit zu rechnen, dass die Anwesenheit des fremden, von außen kommenden Beobachters das Verhalten des beobachteten Informanten beeinflusst; eine im strengen Sinn objektive Innensicht bleibt ihm verwehrt. Dieses Dilemma wird seit William Labov (1972b, 209) als Beobachterparadox (engl. observer’s paradox) bezeichnet. Es liegt nahe zu vermuten, dass die Fremdheit des Forschers um so stärker empfunden wird, je kürzer er am beobachteten Alltagsleben teilnimmt; dafür spricht auch die bereits zitierte Erfahrung, die Hugo Plomteux während seiner längeren Feldstudie gemacht hat (Link). Vor diesem Hintergrund kann man sich fragen, ob das Photo-Archiv des AIS (Link) womöglich Einblicke in die kulturelle Distanz zwischen Forscher und Informant liefert.

Es sind 464 Photos von Informant*innen dokumentiert, auf denen gelegentlich auch die Exploratoren zu sehen sind.  Darunter sind Bilder, die im Hinblick auf die Kleidung und das Ambiente keine große Divergenz vermuten lassen, so das Photo4 mit Paul Scheuermeier5, dem Informanten von Ornavasso (Piemont) und einer jüngeren Frau:

Auch das folgende Photo aus dem Tessiner Aufnahmeort Aurigeno zeigt ein durchaus entspanntes Miteinander von Explorator und Informant*innen, die ganz direkt und offen in die Kamera schauen: 

Einen deutlich anderen Eindruck machen die Photos aus Sperlinga (Prov. Enna, Sizilien), die Gerhrd Rohlfs zwischen dem 13.4. und dem 18.4.1924 aufgenommen hat: Etwa auf dem folgenden Bild posieren alle Personen (der Explorator ist rechts zu sehen) offenkundig (mit erhobenem Löffel).

Quelle des Photos; der zugehörige Text von Rohlfs wurde 2006 von Giovanni Ruffino veröffentlich (Flyer für den Kongress Di mestiere faccio il linguista)

Die anderen Photos aus Sperlinga (und Sizilien) von Rohlfs bestätigen diesen Eindruck;  die photographierten Personen blicken dem Photographen (= Rohlfs) allem Anschein nach als fremdem Beobachter entgegen, wie die beiden folgenden Beispiele belegen:

Übrigens lassen die sizilianischen Photos eine eindeutig nach nach Geschlechtern getrennte Arbeitswelt erkennen, denn auf den Photos sind entweder (nur) Frauen oder (nur) Männer zu sehen.

Bibliographie

  • AIS = Jaberg, Karl / Jud, Jakob (1928-1940): Sprach- und Sachatlas Italiens und der Südschweiz, vol. 8, Zofingen (Link).
  • ALI = Bartoli, Matteo (1995-): Atlante linguistico italiano, a cura di U. Pellis & L. Massobrio, vol. 7, Roma, Istituto Poligrafico e Zecca dello Stato (Link).
  • ALIQUOT = Tosques, Fabio / Castellarin, Michele (2013-): Atlante della lingua italiana quotidiana, Berlin, online (Link).
  • Canobbio/Telmon 2007-2008 = Canobbio, Sabina / Telmon, Tullio (2007-2008): Paul Scheuermeier. Il Piemonte dei contadini 1921-1932. Rappresentazioni del mondo rurale subalpino nelle fotografie del grande ricercatore svizzero,2 vol., Ivrea, Priuli e Verlucca.
  • Fanciullo 1983 = Fanciullo, Franco (1983): Dialetto e cultura materiale alle Isole Eolie, Palermo, Centro di studi filologici e linguistici siciliani.
  • Ferraris 2011 = Ferraris, Giovanni Maria (Hrsg.) (2011): I numeri dell'Immigrazione italiana a Torino (1910-2011), Torino, Città di Torino (Link).
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  • Krefeld 2008b = Krefeld, Thomas (2008): Vom Land und aus der Stadt, in der Linguistik. Ein Wort zur Einführung, in: Krefeld, Thomas / Mager, Wolfgang / Postlep, Sebastian (Hrsgg.), Sprachen und Sprechen im städtischen Raum, vol. 2, Frankfurt am Main, Lang, 9-16.
  • Krefeld 2008e = Krefeld, Thomas (2008): Vom Land und aus der Stadt, in der Linguistik. Ein Wort zur Einführung, in: Krefeld u.a. 2008, 9-16.
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  • Krefeld u.a. 2008 = Krefeld, Thomas / Mager, Wolfgang / Postlep, Sebastian (Hrsgg.) (2008): Sprachen und Sprechen im städtischen Raum, in: Spazi comunicativi, vol. 2, Frankfurt am Main, Lang.
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  • Scheuermeier 1980 = Scheuermeier, Paul (1980): Il lavoro dei contadini. Cultura materiale e artigianato rurale in Italia e nella Svizzera italiana e retoromanza, trad. ita. di Scheuermeier (1943-1956), Milano.
  • Torino anni '20 1974 = Torino anni '20 (1974): Torino anni '20: documentazione fotografica da materiali di Mario Gabinio, in: Catalogo storico delle pubblicazioni della Fondazione G.Agnelli, Torino.
Dieses Prinzip wurde von den AIS-Herausgebern selbst kritisch betrachtet: "Sehr nützlich wäre natürlich, wenn festgestellt werden könnte, wie weit ein Gewährsmann als vollgültiger Repräsentant seiner Dorfmundart angesehen werden darf. Ein sicheres Urteil darüber vermöchte nur der abzugeben, der Zeit und Gelegenheit hätte, neben der Hauptaufnahme mehrere Kontrollaufnahmen zu machen, Gewährsleute desselben Dorfes zu  befragen, die einer anderen Altersstufe und einer anderen sozialen Schicht angehören. (Jaberg/Jud 1928, 183). An sehr wenigen Punkten wurden in einer zweiten Explorationsphase tatsächlich systematisch zweite Sprecher aufgenommen: "Um das Material für die größeren Zentren Oberitaliens zu ergänzen, haben wir nachträglich in Turin, Mailand, Venedig und Bologna je eine zweite, vollständige Aufnahme mit Qn ['normales Questionnaire'; ThK] machen lassen, deren Materialien man z.T. schon im I. Band, regelmäßig vom II. Band an auf den Karten eingetragen findet. Florenz wurde von Anfang an doppelt aufgenommen, mit zwei Vertretern der gebildeten und einem solchen der unteren Volksklassen. Nur in Bologna wurde dasselbe Sujet im Abstand von fünf Jahren zweimal abgefragt." (Jaberg/Jud 1928, 176, Anm. 1)
Ein gutes Beispiel ist die Beschreibung des sardischen Aufnahmeortes Cagliari  (P 985) durch den Explorator Max Leopold Wagner: "Cagliari [...]: Die Stadt hat vier Stadtviertel: 1. Castello. 2. Marina. 3. Villanova, wo hauptsächlich die Kleinbürger und Arbeiter wohnen. 4. Sant'Avendrace oder Stampace, wo die arme Bevölkerung und viele Fischer wohnen. Im Zentrum der Stadt (= Castello und Marina) spricht man das feiner städtische Cagliaritanisch, das etwa den Angaben des Wörterbuchs von Porru entspricht. Der Einfluss des Italienischen ist hier stärker fühlbar. – In Villanova herrscht eine vulgäre Aussprache, die im wesentlichen der Mundart der um Cagliari gelegenen Dörfer entspricht. In Sant'Avendrace ist die Aussprache ebenfalls ländlich mit lautlichen Zügen, die den Mundarten der Sulcis eigen sind" (Jaberg/Jud 1928, 139) (Jaberg/Jud 1928, 139)
Eine berühmte cineastische Verarbeitung ist der Film Rocco e suoi fratelli von Luchino Visconti (1960; Link).
Leider werden die Photos kostenlos nur in sehr schlechter Auflösung angeboten.
Vgl. zur Erhebungskampagne von Paul Scheuermeier seinen - hervorragend edierten - Briefwechsel mit Karl Jaberg (Kunz 2018)).
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