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Zwei Traditionen und zwei Perspektiven

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Zitation: Thomas Krefeld (2021): Zwei Traditionen und zwei Perspektiven. Version 1 (02.02.2021, 08:43). Lehre in den Digital Humanities. , url: https://www.dh-lehre.gwi.uni-muenchen.de/?p=206222&v=1



1. Eine europäische und eine us-amerikanische Forschungstradition 

Die besondere Affinität der Ethnolinguistik zur Dialektologie hängt ohne Frage mit der empirischen Fundierung dialektologischer Forschung zusammen; in gewisser Hinsicht entstehen ethnolinguistische Fragestellungen ganz selbstverständlich aus der Erhebung sprachlicher Daten und/oder aus der Reflexion der Datenerhebung. Da jedoch die Methoden der Datenerhebung mit und in der Dialektologie entstanden ist, kann man sagen, dass auch die Ethnolinguistik eben dort verwurzelt ist. Eine zweite, wissenschaftsgeschichtlich komplementäre Wurzel liegt in der us-amerikanischen Tradition der Kulturanthropologie, die durch den in den USA lehrenden deutschen Juden Franz Boas (1858-1942) begründet wurde (Link); Boas hat mehrere indigene Sprachen und Kulturen des amerikanischen Kontinents und insbesondere Nordamerikas erstmals beschrieben und das umfassende Handbook of American Indian Languages (1911) herausgegeben. Die Erhebung und Beschreibung der europäischen Dialekte einerseits und der indigenen Sprachen Amerikas haben jedoch gemeinsam, dass es sich im Wesentlichen um die systematische Dokumentation mündlich überlieferter Sprachen handelte, zu der die textbasierte, philologische Sprachwissenschaft jenseits der Dialektologie nur wenig beitragen konnte.

2. Die emische und etische Perspektive

Zwei Forschungsperspektiven (vgl. Krefeld 2019aq) haben sich herausgebildet: Die eine versucht eine Kultur und/oder Sprache von innen heraus zu beschreiben, indem so weit als möglich die Sicht und das Wissen derjenigen zu Grunde gelegt werden, die eben die Techniken und Verhaltensweisen, um die es geht, selbst praktizieren, bzw. die die jeweiligen Sprache selbst sprechen. Diese als ‘emisch’ bezeichnete Perspektive stellt die Systemhaftigkeit und unter Umständen auch Geschlossenheit kultureller Komplexe in den Vordergrund; sie ist fest mit der Tradition der amerikanischen Kulturanthropologie verbunden.

Die andere, als ‘etisch’ bezeichnete Perspektive zielt auf den Vergleich von Kulturen und/oder Sprachen ab und legt dabei eine Reihe von Kriterien an, unabhängig davon, ob sie für jede der verglichenen Realitäten relevant sind. In dieser Perspektive sind vor allem die teils monumentalen Sprach- und Sachatlanten bzw. die ethnographischen Atlanten entstanden; ein Blick auf das Inhaltsverzeichns des  Atlas der Schweizerischen Volkskunde (1950-1995) zeigt, um welche Themenbereiche es dabei gehen kann (Link).

Die beiden  Forschungsperspektiven schließen sich keineswegs gegenseitig aus, sondern sie sind durchaus kombinierbar. Allerdings ergeben sich vor allem im Hinblick auf die Datenerhebung jeweils besondere methodische Anforderungen. Während in etisch ausgerichteten Projekten vorzugsweise standardisierbare Verfahren, wie Fragebögen (ita. questionari) eingesetzt werden, kommen in emisch konzipierten Unternehmungen eher offene, oder allenfalls schwach gelenkte Interviews zum Einsatz. Die theoretisch anspruchsvollste und ökonomisch aufwendigste Vorgehensweise ist zweifellos die sogenannte ‘teilnehmende Beobachtung’. Dieses aus der Ethnologie stammende und von Bronisław  Malinowski (1884-1942; Link)  entwickelte Verfahren setzt voraus, dass der beobachtende Forscher über einen längeren Zeitraum hinweg am Alltagsleben der beobachteten Kultur- und Sprachgemeinschaft teilnimmt. Es versteht sich von selbst, dass die Methode nur bei streng synchroner Fragestellung zielführend ist. Das folgende Schema zeigt einige Meilenstein der beiden Forschungstraditionen und ihrer Verbindung:

italienische / romanistische Tradition    us-amerikanische Tradition
Giuseppe Pitrè (1841-1916)
‘demopsicologia’
  Franz Boas (1858-1942)
‘cultural anthropology’
Hugo Schuchardt (1842-1927)1
‘Wörter und Sachen’
 
AIS2  

 
u.a. Plomteux 19813 u.a. Herskovits 1948
...   ...
 
Schuchardt und Pitrè haben korrespondiert; Link.
Einer der Initiatoren und Hrsg. beruft sich ausdrücklich auf Schuchardt; vgl. vgl. Jaberg 1935, 28.
Das Buch, S. 9,  trägt ein Motto aus Herkovits 1952.

Bibliographie

  • AIS = Jaberg, Karl / Jud, Jakob (1928-1940): Sprach- und Sachatlas Italiens und der Südschweiz, vol. 8, Zofingen (Link).
  • Boas 1911 = Boas, Franz (1911): Handbook of American Indian Languages. 2 Vol., Washington, D.C., United States Government Printing Office, Bureau of American Ethnology.
  • Geiger/Weiss/Escher/Liebl/Niederer 1950-1995 = Geiger, Paul / Weiss, Richard / Escher, Walter / Liebl, Elsbeth / Niederer, Arnold (1950-1995): Atlas der Schweizerischen Volkskunde, Basel, Schweizerische Gesellschaft für Volkskunde.
  • Herskovits 1948 = Herskovits, Melville J. (1948): Man and His Works: The Science of Cultural Anthropology, New York, Knopf.
  • Herskovits 1952 = Herskovits, Melville J. (1952): Les bases de l'anthropologie culturelle (fra. Übers. von Herskovits 1948 durch François Vandou), Paris, Payot.
  • Jaberg 1935 = Jaberg, Karl (1935): Aspects géographiques du langage. Conférences faites au Collège de France (décembre 1933), Paris, Droz.
  • Krefeld 2019aq = Krefeld, Thomas (2019): Die ‚emische‘ und die ‚etische‘ Forschungsperspektive, Lehre in den Digital Humanities, Version 5 (Link).
  • Plomteux 1981 = Plomteux, Hugo (1981): Cultura contadina in Liguria. La Val Graveglia, Genova, Sagep Editrice.
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