Sprecher:innen, Gemeinschaften – und Grenzen? Zur Modellierung des kommunikativen Raums (Präsentation)




Dieser Präsentation liegt eine ausformulierte Version zu Grunde (Link).

1. Der kommunikative Raum

Räume in der Perspektive der Humanities (vgl. Krefeld 2019am, Kap. 1.3): sozial, nicht geophysikalisch, durch staatlich institutionalisierte Gesellschaften und andere Gemeinschaften (vgl.  Tönnies 1887) bewirtschaftet 

Sprachen: konstitutiv für soziale Räume, Verbreitung unabhängig von geophysikalischen Parametern

  • z.B. Alpenhauptkamm gerade keine Grenze zwischen den Sprachfamilien
  • z.B. ‘Frankoprovenzalisch’ (seit Ascoli 1878), in den französischen Départements Haute Savoie, Savoie, dem schweizerischen Kanton Wallis und dem italienischen Aostatal → Pässe des Kleinen und Großen Sankt Bernhard
  • salientes Merkmal: die Bezeichnung der MILCH durch den Diminutiv des Typs it. latticello

  • maritimes Beispiel: die antike Magna Graecia (vgl. Krefeld 2022b)
  • Sprachen → Verwendung durch mehr oder weniger zahlreiche Sprecher:innen raumbildend

'soziale' Räume = kommunikative Räume

  • Instanzen (A-C)
  • Parameter (1-6)

(vgl. Krefeld 2002b, Krefeld 2004a, Krefeld 2004d, Tacke 2015)

n.b.: Funktion der Medialität gegenüber der ursprünglichen Version (2002) substantiell aufgewertet

die Räumlichkeit (A) der Sprache (1) Territorialität
(2) Arealität
(B) der Sprecher:innen (3) Provenienz
(4) Mobilität
(C) des Sprechens (5) Positionalität
(6) Medialität
Instanzen (A-C) und Parameter (1-6) zur Modellierung des kommunikativen Raums

Rolle der GRENZEN bei der Konstruktion kommunikativer Räume?

2. Instanz der Sprache

2.1. Territorialität: institutionelle Abgrenzung

offensichtliche Grenzen im Fall der Staatssprachen; obligatorisch in wichtigen Institutionen  (Verwaltung, Erziehung usw.)

  • eindeutig festgelegte und voneinander abgegrenzte Territorien, Nationalstaaten = ein Produkt des 19. Jahrhunderts, das sich im Gefolge der Französischen Revolution (1789) etablierte 

2.2. Arealität: klassifikatorische Binnengrenzen

Staatssprachen = standardisierte Varietäten, Dachsprache (vgl. Muljačić 1989)

  • überdachte dialektale Areale, 

Dialekte =  lokale Sprachen

  • über die politische Zugehörigkeit der Gemeinden auf die staatlichen Territorien abbildbar

außerdem: dialektologische (= wissenschaftliche) Klassifikation, z.B. Bairisch

  • Grenzen zwischen Arealen durch einzelne sprachliche Merkmale (vgl. Krefeld (forthcoming)) definiert (‘Isoglossen’)
  • wissenschaftlich herauspräparierte Areale ≠ deckungsgleich mit staatlichen Territorien, z.B. bairische Dialekte im deutschen Bundesland Bayern, in der Bundesrepublik Österreich, in der italienischen Provinz Bozen (wenige sog. Landler im rumänischen Siebenbürgen;  (vgl. Sedler o.J.))   

Territorien und Areale

areale Klassifikation = rein wissenschaftliche Konstruktion

  • auf der epistemischen Ebene des Experten (Linguisten) angesiedelt
  • kein direkter Bezug zum Sprachwissen der Dialektsprecher:innen auf der epistemischen Ebene des Laien
  • kognitive Bezugsgröße der Dialektsprecher:innen = lokal, nicht regional
  • dialektologische Arealgrenzen ohne alltagskommunikative Relevanz
  • eigene Lokalvarietät von den Sprecher:innen mit großer Zuverlässigkeit erkannt -  behauptete Dialektgrenzen auch? → perzeptive Linguistik (vgl. Pilotstudie von Postlep 2010)
  • in Europa weitläufige Dialektkontinua → Annahme scharfer arealer Grenzen problematisch
  • Dialektometrie → relative (Un)Ähnlichkeit der Lokaldialekte auf quantitativer Basis von Merkmalen  (vgl. Bauer 2009, Goebl 2008),
      • kognitiver Status dieser ‘metrischen’ (Un)Ähnlichkeit  unklar

Territorien: kommunikative Teilhabe durch Kompetenz der Territorialsprache

Areale: kommunikative Teilhabe durch lokale Sprachen UND durch die Territorialsprache

  • aber: Option der pragmatischen Selbstabgrenzung von Sprecher:innen lokaler Dialekte durch deren schiere Verwendung 

3. Instanz der Sprecher:innen

3.1. Provenienz: das Risiko kommunikativer Ausgrenzung

areale und territoriale Bedingungen eines Wohnortes vs. tatsächliche Grenzen im Alltag einzelner Sprecher:innen bzw. ganzer Gruppen

  • etisch (von außen) und  emisch, aus der Perspektive der sprechenden Individuen heraus modellieren (vgl. Krefeld 2019aq)

Typisierung: Provenienz der Sprecher:innen und Erwerb der territorialen bzw. arealen/lokalen Sprache des Wohnorts als L1 und/oder L2

  Erwerb durch
Erstsozialisation (L1)
Erwerb durch
Zweitsozialisation (L2)
areale/lokale Sprache/Varietät des Wohnorts +/- +/-
territoriale  Sprache/Varietät  des Wohnort +/- +/-
Wohnort- und erwerbsorientierte Typisierung von Sprecher:innen

vier exemplarische Typen

Typ 1: autochthone, am Wohnort kommunikativ integrierte Person
  Erwerb durch
Erstsozialisation (L1)
Erwerb durch
Zweitsozialisation (L2)
areale/lokale Sprache/Varietät des Wohnorts +/- -
territoriale  Sprache/Varietät  des Wohnort + -
  • Typ (1): Sprecher:innen mit einheimischen Eltern (in den Sprachwissenschaften oft unreflektiert als prototypische Normalsprecher:innen angesehen
Typ 2: autochthone, am Wohnort kommunikativ partiell ausgegrenzte Person
  Erwerb durch
Erstsozialisation (L1)
Erwerb durch
Zweitsozialisation (L2)
areale/lokale Sprache/Varietät des Wohnorts + -
territoriale  Sprache/Varietät  des Wohnort - -

 

Typ 3: allochthone, am Wohnort kommunikativ ausgegrenzte Person
  Erwerb durch
Erstsozialisation (L1)
Erwerb durch
Zweitsozialisation (L2)
areale/lokale Sprache/Varietät des Wohnorts - -
territoriale  Sprache/Varietät  des Wohnort - -

Typ (4): allochthone, kommunikativ integrierte Sprecher:innen

Typ 4: allochthone, am Wohnort kommunikativ integrierte Person
  Erwerb durch
Erstsozialisation (L1)
Erwerb durch
Zweitsozialisation (L2)
areale/lokale Sprache/Varietät des Wohnorts - +/-
territoriale  Sprache/Varietät  des Wohnort - +

L2-Vermittlung durch Zweitsozialisation zentral für Integration

  • institutionell Förderung durch den Staat?
  • elementare Vermittlung durch Verhalten der integrierten Sprecher:innen

Integrationspotential

aber: Ausgrenzungspotential regionaler Gemeinschaften von Sprecher:innen, Institutionalisierung eigener staatlicher/parastaatlicher Territorien, z.B.  Estland, Lettland und Litauen/Katalonien

  • Abbau alter autochthoner Zweisprachigkeit und ideologische Aufwertung einer als Errungenschaft wahrgenommenen ‘neuen’ Einsprachigkeit

3.2. Mobilität: Grenzüberschreitung

Übergänge von einem Typ zu einem anderen im Gefolge von Migration

  • Typ 1 → Typ 3, postmigratorisch → Typ 4
  • postmigratorischer Spracherhalt über mehrere Generationen → Unterschied zwischen autochthonen und allochthonen Sprachen verschwimmt
  • evtll. Institutionalisierung, z.B. Türkisch an Berliner Grund- und Sekundarschulen
      • postmigratorische Sprachen als Fremdsprachen und nicht als gleichberechtige Unterrichtssprachen in zweisprachigen Schulen = didaktischer Irrweg

4. Instanz des Sprechens

4.1. Positionalität: physiologische Begrenztheit

Sprache über unterschiedliche Wahrnehmungsmodalitäten erfassbar

  • primär, nicht medial: artikulatorische Sprachproduktion und auditive Sprachperzeption (vgl. Krefeld 2015)
  • primäre sprachliche Kommunikation = physiologisch begrenzt

Sprachliche Kommunikation ohne Medienunterstützung ist nur unter den Bedingungen der Nähe, d.h. face to face, möglich.

Kommunikation unter den Bedingungen der Nähe: Artikulation  → Audition

4.2. Medialität

‘Medialität’ ≠ ‘Materialität’  (vgl. Krefeld 2015)

jenseits der Face-to-Face-Begrenzung → medial gestützte/produzierte Sprachverwendung

  • zwei Funktionen

4.2.1. Primäre Funktion: Technische Entgrenzung

  • ‘Urmedium’ Schrift = Befreiung der Botschaft sowie des Senders aus der Bindung an die Face-to-Face-Präsenz
      • stationäre Aufbewahrung de facto standortgebunden (Bibliotheken); Begrenzung des Wissenserwerbs / der Partizipation an der Forschung 
  • Medium der Telefonie: mündliche Kommunikation ohne Kopräsenz am selben Ort
  • digitale Medienkomplexe (vgl. dazu Franko 2019, Kap. 2.3.2..3.)
      • Telefonie in audio-visueller Modalität
      • Sprachsynthese
      • Spracherkennung, z.B. Siri (iOS), aktuell (Stand 29.10.2022) 42 Sprachen bzw. Standardvarietäten
      • Online-Übersetzungsdienste

Internet = politisch prekär, aber

  • Überwindung institutioneller Abgrenzung
  • Abmilderung individueller Ausgrenzung

Mediale Kommunikation unter den Bedingungen der Distanz des kommunikativen Raums

Entgrenzung der Kommunikation = primäre Funktion der Medien,

  • frei nach Wittgenstein 1922: "Die Grenzen meiner Medien bedeuten die Grenzen meines Kommunikationsraums."

4.2.2. Sekundäre Funktion: Materielle Grenzmarkierung

  • ortsfeste Schrift → indexikalische Beschriftung eines Ortes oder Punktes durch ortsfeste Träger, sogenannte Schilder
  • u.a. Markierung von Territorialgrenzen

auch digitale Medienkomplexe in dieser Funktion

  • privatrechtliche Grenzschilder (z.B. "Privatbesitz! Betreten verboten"
  • ortsfeste Schrift auf Hauswänden, Mauern, Fensterscheiben, Asphaltbelägen usw.: illegal und subversiv (‘Graffiti’, ‘murales’)
      • Anspruch auf semiotische Kontrolle der Umgebung und Abgrenzung von der Nachbarschaft; vgl. Lasch 2022, auf der Basis von mehr als 2000 Textgraffiti in Rom (vgl. Link)

Bibliographie

  • Ascoli 1878 = Ascoli, Graziadio Isaia (1878): Schizzi franco-provenzali, in: Archivio glottologico italiano, vol. 3, 61–120.
  • Bauer 2009 = Bauer, Roland (2009): Dialektometrische Einsichten. Sprachklassifikatorische Oberflächenmuster und Tiefenstrukturen im lombardo-venedischen Dialektraum und in der Rätoromania, San Martin de Tor, Istitut Ladin Micurà de Rü.
  • Bierwisch 2009 = Bierwisch, Manfred (2009): Bedeuten die Grenzen meiner Sprache die Grenzen meiner Welt? (Link).
  • Franko 2019 = Franko, Katharina (2019): Code-Switching in der computervermittelten Kommunikation, in: Korpus im Text, München, LMU (Link).
  • Gauchat 1903 = Gauchat, Louis (1903): Gibt es Mundartgrenzen?, in: Archiv für das Studium der Neueren Sprachen und Literaturen 111, Berlin, Schmidt, 345-403.
  • Goebl 2008 = Goebl, Hans (2008): La dialettometrizzazione integrale dell'AIS. Presentazione dei primi risultati, in: Revue de linguistique romane 72, 25-113.
  • Hinzelin (forthcoming) = Hinzelin, Marc-Olivier ((forthcoming)): Manual of Classification and Typology of the Romance Languages, Berlin, De Gruyter.
  • Krefeld (forthcoming) = Krefeld, Thomas ((forthcoming)): Traditional dialectological classification and new paradigms of geolinguistics , in: Heinz / Hinzelin / Filipponio.
  • Krefeld 2002 = Krefeld, Thomas (Hrsg.) (2002): Spazio vissuto e dinamica linguistica: Varietà meridionali in Italia e in situazione di extraterritorialità, in: VarioLingua, vol. Bd. 15, Frankfurt am Main, Lang.
  • Krefeld 2002b = Krefeld, Thomas (2002): La dissociazione dello spazio comunicativo in ambito migratorio (e come viene percepita dai parlanti): i meridionali in Baviera, in: D'Agostino, Mari (Hrsg.): Percezione dello spazio, spazio della percezione: la variazione linguistica fra nuovi e vecchi strumenti di analisi, Palermo, Centro di Studi Filologici e Linguistici Siciliani, 157-172.
  • Krefeld 2004a = Krefeld, Thomas (2004): Einführung in die Migrationslinguistik: Von der "Germania italiana" in die "Romania multipla", Tübingen, Narr.
  • Krefeld 2004d = Krefeld, Thomas (2004): Die drei Dimensionen des kommunikativen Raums und ihre Dissoziation: Sprachliche Variation bei italienischen Migranten, in: Alexandra N. Lenz/Edgar Radtke/Simone Zwickl (Hrsg.): Variation im Raum, Frankfurt a.M., Peter Lang, 211–232.
  • Krefeld 2011f = Krefeld, Thomas (2011): Der Ort des Sprachenrechts im kommunikativen Raum (und die migratorische Herausforderung), in: Recht der Jugend und des Bildungswesens. Zeitschrift für Schule, Berufsbildung und Jugenderziehung (RdJB), vol. 1, 55-63 (Link).
  • Krefeld 2015 = Krefeld, Thomas (2015): L’immédiat, la proximité et la distance communicative, in: Polzin-Hausmann, Claudia / Schweickard, Wolfgang (Hrsgg.), Manuals of Romance Linguistics, Berlin, De Gruyter, 262–274.
  • Krefeld 2018e = Krefeld, Thomas (2018): Glossotope statt Isoglossen. Zum Paradigmenwechsel in der Geolinguistik, in: Korpus im Text. Version 3 (Link).
  • Krefeld 2019am = Krefeld, Thomas (2019): Linguistische Theorien im Rahmen der digital humanities, Version 4, in: Korpus im Text, Serie A, vol. 28010, München, LMU (Link).
  • Krefeld 2019aq = Krefeld, Thomas (2019): Die ‚emische‘ und die ‚etische‘ Forschungsperspektive, Lehre in den Digital Humanities [Version 5] (Link).
  • Krefeld 2022b = Krefeld, Thomas (2022): Die Einrichtung der römischen Provinz – zwischen Phöniziern und Griechen, in: Sicilia linguistica: Grundlagen der regionalen Sprachgeschichtsschreibung (Lehre in den Digital Humanities), LMU (Link).
  • Lasch 2022 = Lasch, Sebastian (2022): Scritte Murali – Analyse der Kommunikationsstrategien am Beispiel des urbanen Raum Roms, in: Korpus im Text, vol. 13, München, LMU (Link).
  • Muljačić 1989 = Muljačić, Žarko (1989): Über den Begriff Dachsprache, in: Status and Function of Languages and Language Varieties, Berlin/New York, de Gruyter, 256-275.
  • Postlep 2010 = Postlep, Sebastian (2010): Zwischen Huesca und Lérida: Perzeptive Profilierung eines diatopischen Kontinuums: Univ., Diss.-München, 2009, Frankfurt am Main, Lang.
  • Radtke/Thun 1996 = Radtke, Edgar / Thun, Harald (Hrsgg.) (1996): Neue Wege der romanischen Geolinguistik: Akten des Symposiums zur Empirischen Dialektologie (Heidelberg/Mainz, 21.-24.10. 1991), Kiel, Westensee-Verlag.
  • Sedler o.J. = Sedler, Irmgard (o.J.): Wer sind die Landler?, in: Siebenbuerger.de (Link).
  • Tacke 2015 = Tacke, Felix (2015): Sprache und Raum in der Romania: Fallstudien zu Belgien, Frankreich, der Schweiz und Spanien: Univ., Diss.-Teilw. zugl.: Bonn, 2014, in: Beihefte zur Zeitschrift für romanische Philologie, vol. 395, Berlin, de Gruyter (Link).
  • Tönnies 1887 = Tönnies, Ferdinand (1887): Gemeinschaft und Gesellschaft: Abhandlung des Communismus und des Socialismus als empirischer Culturformen, Leipzig, Fues (Link).
  • Wittgenstein 1922 = Wittgenstein, Ludwig (1922): Tractatus Logico-Philosophicus. With an Introduction by Bertrand Russell, London, Kegan Paul, Trench, Trubner (Link).

Schreibe einen Kommentar