Der Atlas zur deutschen Alltagssprache (???) von Stephan Elspass und Robert Möller markiert einen weiteren Meilenstein auf dem Weg in die digitale Geolinguistik, denn er setzt, vermutlich erstmals in der Linguistik, Crowdsourcing als einzige Erhebungsmethode sprachlicher Daten ein.
„Crowdsourcing ist eine interaktive Form der Leistungserbringung, die kollaborativ oder wettbewerbsorientiert organisiert ist und eine große Anzahl extrinsisch oder intrinsisch motivierter Akteure unterschiedlichen Wissensstands unter Verwendung moderner IuK-Systeme auf Basis des Web 2.0 einbezieht." ((???); zit. in: Cowdsourcing)
Das Projekt will die regionale Variation auf der Ebene der Dachsprache, nicht des Dialekts erfassen; die regionalen Unterschiede in der Alltagssprache entsprechen also dem 'italiano regionale'; sie haben teils Entsprechungen auf der Ebene des Dialekts, aber sie finden sich auch dort, wo keine Dialekte (mehr) vorhanden sind.
"In vielen deutschsprachigen Gebieten, vor allem in Norddeutschland, werden die traditionellen Dialekte nur noch von älteren Sprecherinnen und Sprechern verwendet, in anderen Regionen, z. B. dem Ruhrgebiet, sind sie fast vollständig aus dem Sprachgebrauch verschwunden. Regionale Unterschiede haben sich aber bis in die Standardsprache, das "Hochdeutsche", erhalten. Das betrifft lautliche Merkmale, besonders aber den Wortschatz. So sind im Hochdeutschen sowohl das eher im Nord(ost)en gebrauchte Sonnabend wie auch das eher in der Mitte und im Süden bevorzugteSamstag zugelassen (siehe 'Pilotprojekt', Karte Samstag/Sonnabend). Besonders deutliche regionale Unterschiede weist die Alltagssprache auf. Für den 'Atlas zur deutschen Alltagssprache' werden neben regionalen Varianten des Wortschatzes auch solche zur Aussprache, zu den grammatischen Formen oder auch zu Formen der Anrede erhoben. [...]
Die verschiedenen regionalen Varianten werden über Internetumfragen, also per indirekter Methode, an fast 500 Ortspunkten in Deutschland, Österreich, der deutschsprachigen Schweiz, Südtirol, Ostbelgien und Luxemburg erhoben. Dabei wird nicht nach der individuellen Gebrauchsform der Internetnutzer gefragt, sondern nach dem 'normalen ortsüblichen Sprachgebrauch'. In den Umfrageformularen, die online zugänglich sind und auch online ausgefüllt werden, gibt es zu jeder Frage sowohl vorgegebene Antwortmöglichkeiten als auch ein Freitext-Feld, in dem weitere Angaben gemacht werden können." (Elspass/Möller)
Die Erhebung erfolgt in zeitlich begrenzten 'Kampagnen'; die bislang letzte, 'Neunte Runde' lief von Januar bis Dezember 2012; die benutzten Fragebögen sind nach Abschluss einer Runde nicht mehr zugängig aber alle Daten (aus 7827 Antworten der 9. Runde) sind in ausgewerteter und kartierter Form zugänglich (♦). Es gelten folgende Kartierungsprinzipien:
"Bei verschiedenen Antworten aus ein und demselben Ort ist die häufiger genannte Variante kartiert, in vielen Karten daneben auch (kleiner) die seltener genannte Variante, sofern sie mehr als 35 % der Nennungen ausmacht. Bei gleich häufiger Nennung musste nach dem Zufallsprinzip entschieden werden, welche Variante als Erst- bzw. Zweitvariante kartiert wurde. In Karten, bei denen die Wiedergabe der Zweitvarianten vor allem zur Verunklarung der regionalen Unterschiede geführt hätte, wurde der Übersichtlichkeit zuliebe darauf verzichtet. Insofern erscheinen die Unterschiede hier – gegenüber dem tatsächlichen „durchschnittlichen“ Gebrauch – etwas stärker betont; dies ergibt sich aber auch schon allein aus der Art der Befragung." (Elspass/Möller)
Das Projekt erfreut sich insgesamt zunehmender Akzeptanz, wozu zweifellos das positive Presseecho beigetragen hat:
Runde | Zeitraum | Anworten | Orte |
1. | Juni 2003 - Januar 2004 | 1763 | 440 |
2. | Mai 2004 - Februar 2005 | 2580 | 432 |
3. | April 2005 - Juli 2006 | 2626 | 399 |
4. | Juli 2006 - Dezember 2007 | 7204 | 439 |
5. | Dezember 2007 - November 2008 | 5086 | 379 |
6. | Dezember 2008 - November 2009 | 3048 | 395 |
7. | Dezember 2009 - Dezember 2010 | 6075 | o.A. |
8. | Dezember 2010 - Dezember 2011 | 9758 | o.A. |
9. | Zwischen Januar - Dezember 2012 | 7827 | o.A. |
Ein Blick in einen Fragebogen ist methodisch lehrreich. Exemplarisch ist AdA_Fbn9, mit dem die Daten der letzten publizierten Runde (9.) erhoben wurde. Die Fragebögen sind auf der Homepage des AdA nicht einsehbar - für die Bereitstellung danke ich Stephan Elspass und Robert Möller sehr herzlich.
Es werden unterschiedlich Stimulus- und Anworttypen eingesetzt; für die onomasiologische Erhebung von Sachbezeichnungen wird oft auf die Kombination von Begriffsbeschreibungen und Abbildungen zurückgegriffen; auf der Seite der Antworten wird in der Regel ein Multiple-Choice-Verfahren mit einer freien Option kombiniert, wie das folgende Beispiel zeigt:
Bei der Erhebung morphosyntaktischer oder phraseologischer Einheiten werden die relevanten Merkmale in kurzen Kontexten ('Trägersätzen') präsentiert:
Jede Fragerunde ist thematisch weit gestreut, und es wird nichts darüber mitgeteilt, wie die jeweiligen Fragebögen zustande kommen: Die Zusammenstellung setzt erhebliches Vorwissen über die erwartbare Variation oder gar über die erwartbaren Varianten voraus. Woher dieses Vorwissen kommt ist nicht klar; es dürfte sich teils um Merkmale handeln, die aus der deskriptiven Germanistik gut bekannt sind, teil aber auch um intuitives Sprecherwissen. Gelegentlich werden auch unklare Ergebnisse früherer Fragebögen wiederaufgenommen. es wird also die Möglichkeit ausgenützt über längere Zeit mit den Informanten zu kooperieren:
sehr nuetzlich, uebernommen
ThK