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Latein und Vulgärlatein

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Zitation: Thomas Krefeld (2020): Latein und Vulgärlatein. Version 1 (31.03.2020, 16:57). Lehre in den Digital Humanities. , url: https://www.dh-lehre.gwi.uni-muenchen.de/?p=158162&v=1



1. Indoeuropäisch - die Familie der europäischen Sprachfamilien

Die romanischen Sprachen haben sich in ununterbrochener Überlieferungskontinuität aus dem Lateinischen entwickelt. Das Lateinische gehört zur großen Familie der indogermanischen, oder: indoeuropäischen Sprachen (), zu denen auch die allermeisten anderen europäischen Sprachen gerechnet werden, insbesondere

  • die germanische Sprachfamilie (Isländisch, Englisch, Dänisch, Norwegisch, Schwedisch, Deutsch u.a.),
  • die slawische Sprachfamilie (Polnisch, Tschechisch, Slowakisch, Ukrainisch, Russisch, Slowenisch, Kroatisch, Serbisch, Bulgarisch u.a.),
  • die kleine baltische Sprachfamilie (Litauisch, Lettisch),
  • die sehr stark zurückgegangene keltische Sprachfamilie (Irisch, Gälisch, Bretonisch u.a.),
  • sowie allein stehende Sprachen wie das Albanische und das Griechische.

Die indogermanischen Sprachen haben offensichtliche Ähnlichkeiten im Wortschatz (oder: in ihrem Lexikon) und ihrer Grammatik, denn grundlegende Funktionen werden durch Flexion, das heißt vor allem durch Endungen mit grammatischer Bedeutung aber auch durch phonetische Modifikationen ausgedrückt, wie z.B. in deu.

  • (ich) esse - (du) isst usw.

Nicht zu den indogermanischen Sprachen zählen in Europa das Baskische, das Finnische, das Ungarische und das Türkische mit einigen eng verwandten anderen Sprachen; zwei davon sind Kontaktsprachen des Romanischen, nämlich das Baskische und das Ungarische; historisch besonders interessant ist das Baskische, da es die einzige nicht romanische Sprache ist, die sich aus vorrömischer Zeit erhalten hat.

Das spanische und französische Baskenland (Quelle)

2. Latein - Vorläufer der Romanischen Sprachen

Das Lateinische ist recht gut dokumentiert und die Anfänge seiner schriftlichen Tradition reichen bis ins 7. Jahrhundert vor Chr. zurück. Allerdings sind aus der frühen Zeit,  nur ganz sporadische  Belege erhalten. Über eine solidere Textbasis verfügen wir seit dem 3. Jahrhundert vor Chr. Für die Geschichte der lateinischen Schriftlichkeit ist vor allem die Zeit zwischen ca. 80 vor Christus und ca. 100  nach Christus bedeutsam, denn  es entwickelte sich dank einer sehr produktiven literarischen Verwendung ein Standard, den wir als klassisches Latein bezeichnen. Diese gewissermaßen erstarrte Varietät, die bis heute noch in den Schulen zahlreicher Länder als Fremdsprache unterrichtet wird, steht oft stellvertretend für das Lateinische überhaupt. Entscheidend für die Herausbildung der romanischen Sprachen ist jedoch die mündliche Überlieferungskontinuität, denn sie unterliegt einer viel stärkeren Veränderungsdynamik. Selbstverständlich ist die Schreibtradition nicht vollkommen von der Dynamik der Mündlichkeit abgeschottet, aber sie spiegelt diese Veränderung nicht direkt und meist nur im Ansatz wider; zahlreiche Phänomen der Mündlichkeit tauchen gar nicht und wenn, dann nur mit großer Verzögerung in der Schriftlichkeit auf; die im Zuge dieser Veränderungen entstehenden romanischen Sprachen erscheinen als eigenständige Sprachen, neben dem Lateinischen, überhaupt erst ab dem 9. Jahrhundert nach Chr. in geschriebener Form  (vgl. Vorlesung 6).

    Latein → ununterbrochene mündliche Überlieferung →
Portugiesisch
Spanisch
Katalanisch
Okzitanisch
Französisch
Bündnerrom.
Dolomitenlad.
Friaulisch
Sardisch
Korsisch
Italienisch
Rumänisch
usw.
arch. Lat. Altlat. klass. Lat. nachkl.  Spätlat. Mittellat.
|
ca. 600 v.Chr.
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ca. 240
v.Chr.
|
ca. 80
v.Chr.
|
ca. 117 n.Chr.
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ca. 180
n.Chr.
|
ca. 650
n.Chr.
schriftliche Überlieferung (Datierung nach Müller-Lancé 2006, 21-42)

Da wir bei der historischen Dokumentation der Sprachen auf Schriftzeugnisse und in jüngerer Zeit zudem auf andere mediale Konservierungstechniken angewiesen sind, ist die Sprachgeschichte eng mit der Mediengeschichte verknüpft.

3. Romanische Sprachen - Fortsetzer des Lateinischen 

Die gemeinsame Abstammung der romanischen Sprachen aus dem Lateinischen ist auf Grund der zahlreichen, sofort identifizierbaren Ähnlichkeiten so evident, dass sie schon im späten Mittelalter, das heißt ca. 500 Jahre vor der Entstehung der romanischen Sprachwissenschaft entdeckt wurde. Ein wichtiger Vorläufer dieser Disziplin, Dante Alighieri (1265-1321), nennt den gemeinsam Ursprung ‘offensichtlich’ (lat. in promptu). An einer berühmten Stelle seiner auf Latein geschriebenen Abhandlung De vulgari eloquentia1  (zwischen 1303 und 1305), in der er auf Grund der Bejahungspartikel drei Ausprägungen des Romanischen unterscheidet, schreibt er dazu:

"Totum vero quod in Europa restat ab istis, tertium tenuit ydioma, licet nunc tripharium
videatur: nam alii oc, alii oil, alii sì affirmando locuntur, ut puta Yspani, Franci et Latini. Signum autem quod ab uno eodemque ydiomate istarum trium gentium progrediantur vulgaria, in promptu est, quia multa per eadem vocabula nominare videntur, ut Deum, celum, amorem, mare, terram, est, vivit, moritur, amat, alia fere omnia." (Dante Alighieri 1948, I, VIII, 6)
‘Es ist wahr, dass der Rest Europas eine dritte Sprache besaß, die jetzt in dreifacher Gestalt erscheint; denn um Zustimmung auszudrücken sagen die einen oc,  andere oil und wieder andere sì, nämlich die Yspani, die Franci und die Latini. Aber ein offenkundiges Zeichen dafür, dass die Volkssprachen dieser drei Völker sich aus ein und demselben Idiom entwickelt haben, kann man man darin sehen, dass Vieles mit denselben Wörtern benannt wird, wie GOTT, HIMMEL, LIEBE, MEER, ERDE, IST, LEBT, LIEBT sowie fast alles Andere.’ (Übersetzung Th.K.)

Das historische Kontinuum Latein-Romanisch lässt sich nun schon etwas genauer fassen: als  Komplex einer mündlichen Überlieferungskontinuität mit ausgeprägter sprachlicher Dynamik, d.h. mit Variation und Wandel,  die durch eine tendentiell eher punktuelle, wenig dynamische und prestigeträchtige schriftliche Überlieferung begleitet wird. Daraus ergeben sich für die sprachgeschichtliche Beschreibung mindestens zwei Feststellungen:

  • Das sogenannte klassische Latein entspricht nur einem kleinen Ausschnitt der überlieferten Schriftlichkeit; er bildet jedoch die Basis der quasi als unveränderlich wahrgenommenen (und womöglich gerade in diesem Bewusstsein verwandten) Standardvarietät der geschriebenen Sprache. Es versteht sich von vorneherein, dass dieser Standard Merkmale konserviert, die im Wandel der Mündlichkeit und der standardfernen Schriftlichkeit verschwanden.
  • Nicht weniger selbstverständlich ist die Tatsache, dass Innovationen aus der Mündlichkeit oder bereits etablierte Merkmale, die in der Epoche der Standardisierung als standardfern wahrgenommen wurden, häufig gar keinen Eingang in die reflektierte Schriftlichkeit fanden.

3.1. Lateinische Formen ohne Fortsetzung in den Romanischen Sprachen

In allen Bereichen des klassischen Lateinischen fällt es nicht schwer Formen zu finden, die keine Fortsetzung in den romanischen Sprachen gefunden haben. 

3.1.1. Lexikon

Schon im Hinblick auf den Wortschatz lässt sich nicht übersehen, dass sich viele frequente und in diesem Sinn wichtige Bezeichnungen des klassischen Lateins in den romanischen Sprachen nicht erhalten haben. Hier einige Beispiele:

lat. Bezeichnung
ohne rom. Forts.
bezeichnetes
Konzept
einige rom. Bezeichnungen  
lat. pulcher, pulchra SCHÖN port. belo, -a, fra. beau, belle, ita. bello, -a < lat. bellus
spa. hermoso, -a, rum. frumos, frumoasă < lat. formosus
lat. parvus KLEIN port. pequeno, -a, span. pequeño, -a   
fra. petit, -e  
ita. piccolo, -a  
rum. mic, -ă  
lat. ferre TRAGEN port. portar, spa. portar, fra. porter, ita. portare, rum. a purta < lat. portare
lat. tellus ERDE port. terra, spa. tierra, fra. terre, ita. terra, rum. ţară < lat. terra

3.1.2. Phonologie

Auch das Lautsystem, das wir aus dem klassischen Latein ableiten können, hat sich grundlegend geändert; markant ist der Wandel des Vokalsystems.

Das Lateinische war eine quantitätssensitive Sprache, dass heißt, kurze und lange Laute werden systematisch unterschieden. In manchen romanischen Sprachen (Italienisch) hat sich zwar die Opposition2 zwischen kurzen und langen Konsonanten erhalten (vgl. ital. sono ‘[ich] bin’ vs. ital. sonno ‘Schlaf’), aber der ganz systematische Unterschied zwischen kurzen und langen Vokalen wurde nirgendwo bewahrt:3

Langvokale   Kurzvokale
pīla ‘Pfeiler’ ː pĭla ‘Ball, Kugel
lēgo ‘ich verfüge’ ː lĕgo ‘ich sammle auf’
mālus ‘Apfelbaum’ ː mălus ‘schlecht’
pōpulus ‘Pappel’ ː pŏpulus ‘Volk’
pūtus ‘Knabe’ ː pŭtus ‘geputzt, rein’
Die Quantitätsopposition im klassisch-lateinischen Vokalsystem

Nach dem Verlust der Quantität fielen manche dieser Vokale zusammen, so dass sich im Romanischen in entsprechenden Wörtern identische Vokale ergaben. In den unterschiedlichen Gegenden der alten Romania entstanden mehrere Systeme (vgl. im Detail Krefeld 2019), von denen das westromanische am weitesten verbreitet ist (in Portugal, Spanien, Frankreich, Nord-  und Mittelitalien). Die folgende Tabelle illustriert diesen Prozess anhand besonders klarer italienischer Beispiele:

Klass.Lat.   Westrom. am Beispiel des Ita.
ī (fīlum ‘Faden’) > i filo
ĭ (pĭlum ‘’) e pelo/pieno 
ē (plēnum ‘voll’)
ĕ (bĕllum ‘hübsch’) > ɛ bello
ā (grānum ‘Korn’) a grano/male
ă (măle ‘schlecht’)
ŏ (bŏnum ‘gut’) > ɔ buono
ō (nōdum ‘Knoten’) o nodo/noce
ŭ (nŭcem ‘Nuss’)
ū (lūnam ‘Mond’) > u luna 
Das westromanische Vokalsystem

Es darf nicht vergessen werden, dass die Notierung der Länge in der Tabelle durch den horizontalen Strich (ī usw. )bzw. das halbrunde Zeichen (ĭ usw.) einer neuzeitlichen Konvention entspricht: Sie ist jedoch nicht antik, denn in römischer Zeit waren die Grapheme <i>, <e>, <a>, <o>, <u> doppeldeutig, da sie jeweils sowohl für den langen wie für den kurzen Laut standen. Das Beispiel zeigt also sehr klar die Unabängigkeit dieses Lautwandels4 von der Schrift: Die phonologisch gesehen ganz grundsätzlichen quantitativen Oppositionen wurde in der lateinischen Graphie niemals markiert, obwohl sie analog zu den Konsonanten (vgl. lat. stella) durch Doppelschreibung intuitiv leicht abzubilden gewesen wäre.

Im Konsonantismus sind die ebenfalls früh verstummten Buchstaben <h> und <n>, in der Verbindung <ns>, zu nennen, wie beiden folgenden Beispiele zeigen:

lat. port. spa. fra. it. rum.
mensem 'Monat' (Akk.) s mes mois mese masă (< lat. mensa ‘Tisch’)
hospitem ‘Gast’ hóspede [o-] huésped [we-] hôte [o-] ospite oaspete

Man beachte  bei den port., spa. und fra. Beispielen den konservativen Charakter der Schrift, die das <h-> bis heute beibehält, obwohl es schon in römischer Zeit verstummt ist.

3.1.3. Morphosyntax

Wirklich erstaunlich ist allerdings der massive morphosyntaktische Wandel; er betrifft insbesondere die nominale und  verbale Flexion. Die Masse der Veränderungen kann hier nur angedeutet werden; einen nützlichen Überblick gibt Müller-Lancé 2006.

3.1.3.1. Nominalsystem: Kasus

Im klassischen Lateinischen werden die syntaktischen Funktionen (Subjekt, Objekte, nominale Attribute u.a.) und die pragmatische Funktion der Anrede durch morphologische Kasus ausgedrückt, wie einige wenige Beispiele exemplarisch zeigen: 

(1) (2) (3) Nominativ
(Subjekt)
Akkusativ
(Objekt)
Dativ
(Objekt)
Verb
  Mater filium   amat
  ‘(Die) Mutter
(den) Sohn   liebt’
  Filius matrem   amat
  ‘(Der) Sohn (die) Mutter   liebt’
    Librum matri do
    ‘(Das) Buch (der) Mutter gebe (ich)’
(4) Ablativ
(Adverbial)
     
  maxima diligentia librum   perfeci5
  ‘(Mit) größter Sorgfalt (das) Buch   stellte (ich) fertig’
(5)   Genitiv (Attribut)    
  domus matris    
  ‘Haus Mutters’    
(6) Vokativ (Anrede)      
  Brute      
  Anrede von Brutus      
Einige Funktionen der lat. Kasus

Alle Kasus können je nach Deklinationsklasse durch unterschiedliche Formen ausgedrückt werden; die Menge dieser Klassen wurde jedoch stark reduziert, indem seltenere Klassen in die häufigeren übergingen. Bereits im klassischen Latein wurden auch Präpositionen in Verbindung mit den morphologischen Kasus verwendet (vgl. Pinkster 1988, 99-108). Diese Ausdrucksweise wurde in der Entwicklung zu den romanischen Sprachen generalisiert, und gleichzeitig verschwanden die morphologischen Kasus, so dass die syntaktischen Funktionen nurmehr durch Präposition und durch die Wortstellung zum Ausdruck gebracht werden. Eine sehr stark reduzierte Kasusmarkierung gibt es allenfalls in den romanischen Pronominalsystemen.

Immerhin verfügen zwei romanische Sprachen über - ebenfalls stark reduzierte - Systeme mit zwei morphologischen Nominalkasus; bis zu einem gewissen Grade haben sich in diesen Systemen auch lateinische Formelemente erhalten:

  • Im Altfranzösischen (und wie es scheint auch im Altbündnerromanischen) gab es einen Subjektsfall (Rektus) und einen anderen Fall (Obliquus), mit oder ohne Präposition, für alle anderen syntaktischen Funktion.
  • Das Rumänische zeichnet sich durch drei morphologische Kasus aus, einen Vokativ und  zwei Kasus für syntaktische Funktionen; der erste Kasus kodiert das Subjekt und die Entsprechung des lateinischen Akkusativobjekts:
  Kasus I  
Nominativ (Subjekt) Verb Akkusativ (Objekt)
Mama  iubește  fiul
‘Mutter die
liebt Sohn den’
Fiul iubește mama
‘Sohn der liebt Mutter die’
Das Kasusystem des Rumänischen I

Der zweite Kasus kodiert die Funktion des lateinischen Dativs sowie des Genitivs.

  Kasus II    
Nominativ (Subjekt) Verb Akkusativ (Objekt) Dativ (Objekt)
Mama cartea fiului
‘Mutter die gibt Buch das Sohn dem’
Fiul cartea mamei
‘Sohn der gibt Buch das Mutter der’
  Attribut (Genitiv)    
casa mamei    
‘Haus das Mutter der’    
casa fiului    
‘Haus das Sohn des’    
Das Kasussystem des Rumänischen II

Der Vokativ (Doino Anrede von fem. Doina, Radule Anrede von mask. Radu)  entspricht funktional dem Lateinischen, aber die feminine Endung ist eindeutig eine Entlehnung aus dem Slawischen.

Festzuhalten ist, dass es praktisch keine funktionalen Gemeinsamkeiten zwischen dem altfranzösischen und dem rumänischen Kasussytem gibt, so dass man darin kein allgemein romanisches Merkmal sehen sollte, das bereits im Lateinischen angelegt war; es handelt sich bei den rumänischen Endungen letztlich um angehängte Artikel.

Das lateinische Nominalsystem verfügte ferner über drei Genera (Maskulinum, Femininum, Neutrum), von denen das Neutrum bis auf spezifische (und interessante) Reste verschwunden ist. Die meisten lat. Neutra wurden in den romanischen Sprachen zu Maskulina:

lat. Neutrum Sing. > rom. Maskulinum Sing.
 vinum ‘Wein’  > port. vinho, span. vino, kat./prov. vi, fra. vin, ita. vino, rum. vin

Einige Neutra wurden jedoch auch in die Klasse der Feminina überführt und gelegentlich, wie im Fall von folium, entstand aus demselben Neutrum sowohl eine maskuline wie eine feminine Form:

lateinisch rom. Maskulinum Sing. rom. Femininum Sing.
Neutrum Sing. folium ‘Blatt’ it. foglio ‘Blatt Papier’, engad. fögl  
Plural. folia ‘Blätter, Laub’   port. a folha, span. la hoja, fr. la feuille, it. la foglia ‘Blatt einer Pflanze’
Alternative Entwicklung des lateinischen Neutrums

3.1.3.2. Verbalsystem: Futur und Passiv

Im Verbalsystem sind einige Formenklassen vollkommen untergegangen; so zeigen die romanischen Sprachen keine Reste des lateinischen Futurs. Dasselbe gilt für das morphologische Passiv, für das im Lateinischen vollständige Paradigmen existierten. Zur Illustration reicht das Beispiel einer 3. Pers. Präs.:

lat. videre ‘sehen’ Aktiv Passiv
3. Pers. Präs. videt videtur
  ‘er/sie/es sieht’ ‘er/sie/es wird gesehen’

4. Gesamtromanische Merkmale ohne Belege in klassischen Texten

Im Gegensatz zum gesamtromanischen Abbau lateinischer Form(klassen)en stehen die romanischen Gemeinsamkeiten, die aus den uns erhaltenen klassisch-lateinischen Texten zwar nicht ableitbar sind, die es aber bereits im Lateinischen gegeben haben muss, denn sonst hätten sie nicht in alle romanischen Sprachen gelangen können. Das berühmteste Beispiel ist zweifellos der nominale Artikel. Diese Wortklasse fehlt dem Lateinischen, so dass nominale Ausdrücke gemessen an Sprachen mit Artikeln ganz unterschiedliche Bedeutungen haben können:

lat. canis  ‘Hund’ + latrat ‘bellt’ - ‘der Hund bellt (definit; dieser bestimmte)’
- ‘ein Hund bellt (indefinit; irgendeiner)’
- ‘jeder Hund kann bellen (generisch; alle Lebewesen aus der Spezies HUND)’

Der indefinite Artikel geht in allen romanischen Sprachen auf das lateinische Numeral unus ‘eins’ zurück:

  port. spa. fra. it. rum. sard.
mask. um cavalo  un caballo un cheval un cavallo un cal un kaɖɖu
fem. uma cabra una cabra une chèvre una capra o capră una krapa
Der indefinite Artikel (mask., fem.) in einigen romanischen Sprachen (< lat. unus, -a)

Der definite Artikel geht fast in allen romanischen Sprache auf den Akkusativ des lat. Demonstrativpronomen ille ’jener’, d.h. auf illu(m) zurück; im Sardischen (und im Katalanischen der Balearen) dagegen auf den Akkusativ von lateinisch ipse ‘selbst’, d.h. auf ipsum:

  port. spa. fra. it. rum. sard.
mask. o cavalo  el caballo le cheval il cavallo calul su kaɖɖu
fem. a cabra la cabra la chèvre la capra capra sa krapa

Andere gemeinromanische Merkmale sind die Bildung von Tempusformen mit Auxiliaren (teils nur mit Verben des Typs ‘haben’, teils mit ‘haben’ und ‘sein’ und eventuell mit weiteren Auxiliaren) und die Steigerung der Adjektive mit Hilfe von Adverbien:

  port. spa. rum.  fra. it.
‘stark’ (fortis) forte  fuerte tare fort forte
‘stärker’ (fortior) mais forte mas fuerte mai tare plus fort più forte
  < lat. magis < lat. plus

5. Typologischer Wandel in der lateinisch-romanischen Kontinuität

Hinter vielen der nicht fortgesetzten Phänomene des klassischen Lateins sowie vielen der dort nicht belegten Erscheinungen scheint ein gemeinsames Prinzip des sprachlichen Wandels zu stehen, nämlich der Übergang von einer dominant synthetischen zu einer dominant analytischen Kodierung grammatischer Funktion.  Der synthetische Ausdruck einer grammatischer Funktion erfolgt mit syntaktisch unselbständigen Formen, die eine feste, oft untrennbare Einheit mit dem Wort eingehen, dessen grammatische Funktion sie festlegen; meistens übernehmen Endungen diese Aufgabe; der analytische Ausdruck beruht auf der Verwendung von syntaktisch selbständigen Elementen:

‘Mutters Haus’ lat. domus matris synthetisch: Kasus
rum. casa mamei
port. a casa da mãe analytisch: Präposition
span. la casa de mi madre
fra. la maisaon de ma mère
ita. la casa della madre
Synthetischer und analytische Ausdruck grammatischer Funktionen am Beispiel der POSSESSION

6. Vulgärlatein

Die bisher genannten Beispiele zeigen, dass ganz unterschiedliche Ausprägungen, oder: Varietäten, des Lateinischen zur Bildung der romanischen Sprachen beigetragen haben. Alle  diese lateinischen Vorläufer romanischer Formen und Kategorien werden als ‘vulgärlateinisch’ bezeichnet. Dieser Ausdruck ist zwar missverständlich und wird auch unterschiedlich definiert. Aus romanistischer Sicht ist jedoch die hier angeführte Definition sehr sinnvoll; sie geht auf Eugenio Coseriu zurück:

Wir sind damit zu dem Schluss gekommen, daß das ‘Vulgärlatein’ keine reale historische Sprache ist, sondern nur eine Abstraktion darstellt, die das ‘ererbte’ lateinische Element in den romanischen Sprachen erklärt (das von diesen in späterer Zeit ‘erworbene’ Element bleibt damit außer Betracht [...]). Der Begriff ‘Vulgärlatein’ ist weiter als der des ‘klassischen Lateins’, weil er – ein Gutteil des letzteren mitumfassend – auch Elemente beinhaltet, die niemals zum literarischen Latein gehört haben. Auch in zeitlicher Hinsicht ist der Begriff umfassender, da er nicht nur Formen des vorklassischen Lateins enthält, sondern auch spätere, neuere Formen beinhaltet. Außerdem bezieht er sich auf ein viel differenzierteres Latein. Während wir das sogenannte ‘klassische Latein’ als eine weithin unveränderliche ‘Standard’-Sprache betrachten können, stellen wir im ‘Vulgärlatein’ gerade bemerkenswerte regionale, soziale und stilistische Unterschiede fest, wobei jeder der drei Typen von Unterschieden wiederum chronologische Unterschiede aufweist. (Coseriu 1978, 272 f.)

Coseriu illustriert seine Auffassung durch das folgende Schema:

Das Schema zeigt nicht nur die Heterogenität des ‘ererbten lateinischen Elements in den romanischen Sprachen’; es macht auch auf die wichtige Tatsache aufmerksam, dass diese Elemente oft nicht in Texten belegt sind, sondern durch die Sprachwissenschaft rekonstruiert werden müssen; das gilt ganz grundsätzlich für das gesprochene Latein, denn die einzige überlieferte Quelle ist ja die visuelle und nicht auditive Schrift; es gilt aber weithin auch für das geschriebene Latein, da sich die Schrift eben am Standard orientierte. 

7. Standardfernes Vulgärlatein in schriftlichen Quellen

Allerdings ist auch nicht standardkonformes Latein durchaus in schriftlichen Quellen belegt (Müller-Lancé 2006, 63-68); dabei handelt es sich einerseits um Texte  in denen es ganz bewusst eingesetzt oder ausdrücklich thematisiert wird. So verwenden manche Schriftsteller gezielt standardfernes Latein aus stilistischen Gründen, um bestimmte Personen zu charakterisieren. In didaktischer Absicht werden standardferne Formen dagegen ausdrücklich getadelt, wie etwa in der berühmten Appendix Probi (wohl nach dem 3. Jh. n.Chr.), die standardkonforme und standardferne Varianten gegenüberstellt. So heißt es über die Bezeichnung für das OHR:
auris non oricla (vgl. Probus)
Das heißt, die Standardvariante auris hatte bereits starke Konkurrenz durch die Ableitung auricula (> oricla) erhalten. Es ist nun ganz offensichjtlich, dass alle romanischen Bezeichnungen eben auf diese getadelte Form zurückgehen, denn sie werden auf der 2. Silbe betont (wie oricla und nicht auf der ersten wie auris), und sie setzen außerdem die Verbindung [kl] voraus.

lat.   romanisch
auris [ˡauris] > Ø
oricla [oˡrikla] > port, orelha, span. oreja, fr. oreille,  it. orecchio, rum. ureche, usw.

Ganz ähnlich verhält es sich bei der Bemerkung:
vetulus non veclus
Die empfohlene Form vetulus ‘alt’ ist bereits eine Ableitung der Standardvariante vetus; alle romanischen Varianten setzen wiederum die getadelte Form veclus (mit [kl]) voraus (vgl. rum. vechi, it. vecchio, engad. vegl, friaul. vieli, frz. vieux/vieil(le), prov. vielh, kat. vell, sp. viejo, port. velho). 

Der beschleunigte Sprachwandel in der Mündlichkeit erzeugt schon in der Spätantike Verständnisschwierigkeiten. Sehr aufschlussreich im Hinblick auf die zunehmende Schwierigkeit klassisches Latein zu verstehen ist die Bemerkung des Kirchenvaters Augustinus (354-430 n.Chr.):

Melius est reprehendant nos grammatici quam non intellegant populi. (Augustinus, 138, 20) 'es ist besser, dass uns die Grammatiker tadeln, als dass uns die Leute aus dem Volk nicht verstehen'

7.1. Eine Grabinschrift von der Mosel

Wegen ihrer weiten Verbreitung im gesamten Imperium Romanum sind auch die Inschriften  eine wichtige Quelle (vgl. für Oberitalien und die Galloromania diese Karte): Ein prototypisches Beispiel liefert ein Grabstein aus dem kleinen Ort Kobern-Gondorf an der Mosel (). Die Inschrift (aus Zeit zwischen 401-600 n. Chr.) lautet:

HOC TETOLO FECET MONTANA
CONIVX SVA MAVRICIO QVI VI
SIT CON ELO ANNVS DODECE ET
PORTAVIT ANNUS QARRANTA
TRASIT DIE VIII KL IVNAS ()
‘Hoc titulum fecit Montana coniunx eius Mauricio, qui vixit cum illa annos duodecim et portavit annos quadraginta. Transiit ante diem VIII Kalendas Iunias’ (mögliche Entsprechung in klassischem Latein)
deu. Übersetzung: ‘Diese Inschrift verfertigte seine Gattin Montana dem Mauricius, der mit ihr 12 Jahre lebte und 40 Jahre alt war’

Der Abgleich mit der klassisch-lateinischen Entsprechung liefert etliche Hinweise auf die Aussprache aber auch auf die Grammatik (sua statt eius) des spätantiken Lateinischen; man beachte auch das Merkmal, das sich bereits als Hinweis auf regionale Besonderheiten interpretieren lässt, nämlich die Reduktion des  doppelten <ll> in <elo> (anstatt <illa>): Der Fundort liegt nahe bei der Stadt Trier, die in der Spätantike die Hauptstadt des römischen Gallien war; das in Gallien entstandene Galloromanische (Französisch und Okzitanisch) kennt keine langen Konsonanten.  

8. Rekonstruktion des standardfernen Lateins

Häufig ist es notwendig, nicht überlieferte lateinische Ausgangsformen zu rekonstruieren. Dabei kann man sich bis zu einem gewissen Grade auf die Regelmäßigkeit des Lautwandels (DEFAULT) verlassen. Auch dazu soll ein illustratives Beispiel gegeben werden. Aus dem lat. Adjektiv fortis, genauer: aus der Akkusativform forte(m) sind eine Reihe romanische Adjektive entstanden, die teils auch adverbial im Sinne von ‘sehr’ verwandt werden. Daneben gibt es einige Substantive in der zugehörigen Bedeutung ‘Kraft’, deren Stamm jedoch nicht auf /t/, sondern auf /s/ bzw. /ts/ oder /Θ/ ausgeht.  Diese Substantive können unmöglich auf die romanischen Adjektive zurückgehen, da sich /t/ bzw. /te/  in den genannten romanischen Sprachen nicht verändert. Die substantivischen Formen erklären sich jedoch in ganz selbstverständlicher Weise aus lat. /tia/, einer Lautverbindung, die im Neutrum Plural fortia des lat. Adjektivs fortis vorliegt, einer Form, die bereits im Lat. substantivisch gebraucht wurde ():  

port. Subst. força  lat. Adj. forte(m) ‘stark’   > port. Adj. forte
spa. Subst. fuerza span. Adj. fuerte
fra. Subst. force <  dazu lat. fortia (), Neutrum Plural fra. Adj. fort
ita. Subst. forza it. Adj. forte
  rum. Adj. foarte

Schließlich gibt es auch noch romanische Verben, die zum selben Stamm gehören. Sie haben jedoch die Bedeutung ‘zwingen’; da es nun nicht allzu wahrscheinlich ist, dass in den unterschiedlichen romanischen Sprachen unabhängig voneinander ein Verb mit genau dieser Bedeutung entstanden ist, drängt sich die Annahme auf, dass schon im Lateinischen ein Verb *fortiare  existierte, das vom substantivierten fortia abgeleitet wurde. Dieses vulgärlateinische Verb ist zwar in keinem Text belegt, es würde aber die romanischen Verben erklären, so dass seine Rekonstruktion gerechtfertigt ist. Rekonstruktionen werden durch das Zeichen * gekennzeichnet: 

lat. Subst. fortia > Verb *fortiare ‘zwingen’ > port. forçar
 span. forzar
kat. forsar
prov. forsar
fr. forcer
it. forzare

 

Der  Titel ist nicht leicht zu übersetzen; in den deutschen Übersetzungen werden verschiedene Lösungen vorgeschlagen, wie ‘Über das Dichten in der Muttersprache’ oder - viel besser - ‘Über die Beredsamkeit in der Volkssprache’ ().
In Opposition stehen zwei Laute, die in einer Sprache einen Bedeutungsunterschied markieren.
Allerdings ist ein anderer vokalischer Quantitätsunterschied im Friaulischen sekundär wieder entstanden.
Unter anderen historischen Bedingungen kann durchaus auch schriftbasierter Lautwandel, sogenannte spelling pronounciation, eintreten; ein Beispiel ist die Aussprache des auslautenden -r in fra. Infinitiven auf -ir (fra. finir [fi'ni; wie es scheint war das -r in dieser Endung ebenso verstummt wie in der häufigeren Infinitivendung -er (vgl. fra. aimer [ɛ'me]) und wurde dann sekundär wieder ausgesprochen.

Bibliographie

  • Krefeld 2019 = Krefeld, Thomas (2019): Die sizilianische Latinität und die historische Phonetik. Version 2 (22.10.2019, 18:09), in: Lehre in den Digital Humanities, München, LMU (Link).
  • Augustinus = Augustinus: Enarrationes in Psalmos (Link).
  • Coseriu 1978 = Coseriu, Eugenio (1978): Das sogenannte 'Vulgärlatein' und die ersten Differenzierungen in der Romania, Übers. eines unveröff. span. Originals aus dem Jahre 1954 von Wulf Oesterreicher, in: Kontzi, Reinhold (Hrsg.), Zur Entstehung der romanischen Sprachen, Darmstadt, Wiss. Buchgesellschaft, 257-291 (Link).
  • Dante Alighieri 1948 = Dante Alighieri (1948): De Vulgari Eloquentia ridotto a miglior lezione, commentato e tradotto da Aristide Marigo, con introduzione, analisi metrica della canzone, studio della lingua e glossario. A cura di Aristide Marigo. Seconda edizione, in: Opere di Dante Volume XI, Firenze, Le Monnier. (Link).
  • Georges 1913 [1998] = Georges, Karl Ernst (1913 [1998]): Ausführliches lateinisch-deutsches Handwörterbuch, Hannover (Darmstadt) (Link).
  • Müller-Lancé 2006 = Müller-Lancé, Johannes (2006): Latein für Romanisten. Ein Lehr- und Arbeitsbuch, Tübingen, Narr.
  • Pinkster 1988 = Pinkster, Harm (1988): Lateinische Syntax und Semantik, Tübingen, Francke.
  • Probus = Probus: Appendix Probi, as published in Baehrens, W. A., 1922, Sprachlicher Kommentar zur vulgärlateinischen Appendix Probi. (Link).
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