1. Skizze des Unternehmens
Die Geschichte der Geolinguistik im Allgemeinen oder der italienischen Dialektologie im Besonderen sind nicht Gegenstand dieser Vorlesung; es geht jedoch um die grundlegenden neuen Entwicklungen, die sich in den letzten 20 Jahren ergeben haben. Daher ist es zunächst angebracht, die traditionelle Forschung exemplarisch und auch im Detail zu beschreiben. Als Ausgangspunkt dafür dient der Sprach- und Sachatlas Italiens und der Südschweiz (AIS) von Karl Jaberg und Jakob Jud (1928-1940). Dabei handelt es sich weder um den ersten Sprachatlas, noch ist er in seiner Anlage repräsentativ für die ganze Gattung. Aber er verkörpert zweifellos den Prototyp aller romanischen Sprachatlanten und vielleicht aller Sprachatlanten überhaupt.
Der AIS ist natürlich vor dem Hintergrund der Sprachwissenschaft seiner Zeit und ihrer Beschränkungen zu sehen; manches wird heute selbstverständlich anders, wenn auch nicht unbedingt besser, gemacht. Aber, um es emotional zu sagen, je länger man sich mit dem AIS befasst, umso größer wird der Respekt vor dieser wirklich monumentalen Sprachdokumentation: sowohl im Hinblick auf die schiere Quantität der Daten wie hinsichtlich ihrer Präsentation.
Publiziert wurden im Wesentlichen folgende Werke:
- der Atlas - Jaberg, Karl/Jud, Jakob (1928-1940): Sprach- und Sachatlas Italiens und der Südschweiz (AIS), 8 Bände, Zofingen (digital unter NavigAIS); hier sind auf 1681 Karten und in 20 Konjugationstabellen die lokalen Dialekte von 416 Orten erfasst;
- ein Handbuch - Jaberg, Karl/Jud, Jakob (1928): Der Sprachatlas als Forschungsinstrument. Kritische Grundlegung und Einführung in den Sprach- und Sachatlas Italiens und der Südschweiz, Halle [Salle]; diese nicht sehr umfangreiche, aber äußert informative Anleitung liefert wichtige methodische Erklärungen und sachliche Hintergrundinformationen zur Vorgehensweise;
- ein Index - Jaberg, Karl/Jud, Jakob (1960): Index zum Sprach- und Sachatlas Italiens und der Südschweiz. Ein propädeutisches etymologisches Wörterbuch der italienischen Mundarten, Bern; der Index ist außerordentlich hilfreich, um Dialektwörter zu suchen;
- ein ethnographisches Handbuch - Scheuermeier, Paul (1943/1956): Bauernwerk in Italien, der italienischen und rätoromanischen Schweiz: Eine sprach- und sachkundliche Darstellung landwirtschaftlicher Arbeiten und Geräte, 2 Bde., Zürich (ital. Übersetzung: Mailand 1980);
- ein autobiographischer Erfahrungsbericht - Scheuermeier, Paul (1969): Vom guten Stern über unserem AIS;
- ein Online-Archiv, das in seiner Datenbank vor allem die zahlreichen Photos und Zeichnungen (von Geräten) zugänglich macht.
1.1. Das Ortsnetz
Die Grundkarte zeigt das Netz der Erhebungspunkte, mit dem ein zentraler Ausschnitt des von Portugal bis Istrien (in Kroatien) reichenden romanischen Dialektkontinuums, der so genannten Romania continua, erfasst wird; diese Dialekt werden unterschiedlichen romanischen Einzelsprachen zugeordnet (die sich im Hinblick auf das Bündnerromanische (vgl. Facts 33-52) und Ladinische noch weiter differenzieren ließen):
Zu den Erhebungspunkten gehören auch alle großen italienischen Städte. Allerdings werden die Städte von den ganz wenigen Doppelerhebungen abgesehen genau wie die kleinen Orte auf dem Land erfasst, ohne auf die Spezifika städtischer Kommunikationsräume einzugehen, die aus der schon aus der größeren Heterogenität der Bevölkerung ergeben.
Trotz der mehr als 400 Punkte ist das resultierende Bild des arealen Sprachraum abhängig von der getroffenen Auwahl; das gilt vor allem im Hinblick auf die unübersehbare Bevorzugung des Binnenlandes und die dementsprechende Vernachlässigung der Küstenstädte und der Häfen insbesondere. Damit werden die seit der Antike wichtigsten Verkehrswege weitgehend ausgeblendet; womöglich sähe eine Gliederung der Areale auf der Basis von Häfen deutlich anders aus. Es ist ja frappierend zu sehen, wie das aktuelle Netz der Bahnverbindungen den antiken Hauptstraßen entspricht - und wie wenig dem Ortsnetz des AIS.
Exemplarisch ist ein Ausschnitt der tyrrhenischen Küste; er zeigt, dass im AIS-Netz die alten Hafenstädte Livorno, Piombino, Castiglione, Civitavecchia, Terracina, Gaeta, Formia u.a. fehlen
1.2. Datenerhebung
Bei der Materialerhebung des AIS wurden u.a. drei wichtige Prinzipien berücksichtigt:
- der Einsatz möglichst weniger Exploratoren, nämlich:
- Paul Scheuermeier (Norden und Mitte),
- Gerhard Rohlfs (Süditalien),
- Max Leopold Wagner (Sardinien),
- die direkte Erhebung mündlicher Daten mit einem Fragebuch ('questionario');
- spontane und möglich genaue ('impressionistische') phonetische Transkription während des Interviews;
- sorgfältig ausgewählte Einzelinformanten.
Hier das Photo einer Erhebung:
Das erklärte Ziel des AIS besteht in der Dokumentation der aktuellen dialektalen Realität, und nicht idealisierter archaischer Formen:
"Man spricht gern von den ursprünglichen Verhältnissen einer Mundart. Wo fängt die Ursprünglichkeit an? Es gibt in der sprachlichen Betrachtung keine Bretterwand, hinter die man nicht schauen darf. 'Ursprünglich' kann bloß heißen 'auf einer älteren Entwicklungsstufe stehend'. Wir wollen aber nicht eine ältere Entwicklungsstufe, also nicht die 'ursprüngliche' Mundart, sondern die letzte, die jüngste Entwicklungsstufe, die moderne Mundart mit allen Mischungen und Infiltrationen festhalten. Eine genuine Mundart gibt es so wenig wie es eine einheitliche Mundart gibt. 'Genuin' nennt man das, was zeitlich weit genug von uns entfernt ist, um uns seine Herkunft zu verheimlichen. 'Ursprünglich' und 'genuin' wird morgen sein, was uns heute als 'jung' und 'importiert' erscheint. Ein Sprachatlas ist mit seinen 'jungen' und 'alten', 'aufstrebenden' und 'anormalen' Sprachformen das getreue Abbild des Lebens, in dem Junge und Alte, Gereifte und Werdende, Herdenmenschen und eigenwillige Draufgänger am Webstuhl die Fäden zum bunten Zeitgewebe zusammenfügen." (Jaberg/Jud 1928, 241)
An diesem Ziel orientiert sich (jedenfalls theoretisch) auch die Auswahl der Informanten;
"Es besteht wohl kein Zweifel darüber, dass in Italien Frauen aus mittleren und unteren Klassen im allgemeinen die zuverlässigsten Vertreter der einheimischen Mundart sind, da sie weniger reisen, die periodische Auswanderung meist nicht mitmachen, Einflüssen von außen weniger ausgesetzt sind als die Männer, in den Alpen oft auch die landwirtschaftliche Terminologie besser kennen als diese. [...] Andererseits ist die für die Aufnahme unentbehrliche Kenntnis der Gemeinsprache bei den Frauen viel weniger verbreitet als bei den Männern. Endlich fühlt sich die Frau besonders in Auswandererorten oft als inferiores Wesen, wird auch vom Manne als solches behandelt [...]" (Jaberg/Jud 1928, 189 f.)
Zu jeder Dialektaufnahme des AIS wurde in Jaberg/Jud 1928 ein kurzes "Aufnahmeprotokoll" veröffentlicht; hier das Beispiel von Fex-Platta (Aufnahmeort Nr. 46):
"47 (6) F e x – P l a t t a, Sils (rom. Segl), Kreis Oberengadin (Engiadin'Ota), Bezirk Maloja, Kt. Gaubünden, protest. (alt Bistum Chur). – 10. bis 15. 1. 1920. – Qn – Konj. – Photo 18—24, 26—27, 497
G e m e i n d e: neben alteingesessenen romanischen Familien haben sich Familien aus dem Bergell niedergelassen, die z.T. ihre bergellische Mundart beibehalten. Die junge Generation spricht nur das Schriftengadinische.
S u j.: Frau, Vater alteinheimisch, lebte aber jahrelang in Frankreich, Mutter aus Soglio, hat zeitlebens in Fex gewohnt, – 69 – Wohnte 3 J. in Samaden (Engadin), sonst immer in der Gemeinde. Bodenständg, mundartlich und sachlich wohl zuverlässig. Sachliche Lücken wurden durch eine Ergänzungsaufnahme mit einem alten Bauer ausgefüllt.
M u n d a r t: Über die lautlichen Verhältnsse. E. Wallberg, Saggio sulla fonetica del parlare di Celerina-Cresta, pag. 4 n." (Jaberg/Jud 1928, 46)
1.3. Inkonsistenzen
In der Praxis erweist sich die Existenz eines sorgfältig ausgewählten, repräsentativen Einzelnen als Fiktion; denn die Informanten, mit denen tatsächlich gearbeitet wurden, kommen eher dem nahe, was in der Sprachwissenschaft (von Chambers/Trudgill 1998) als NORM (Non mobile Old Rural Male) karikiert wird; dazu vergleiche man das folgende Aufnahmeprotokoll:
"146 (209) M o n t a n a r o, mand. Montanaro, prov. Torino, dioc. Ivrea – 16. bis 17. X. 1923. – Qn – Phot. 1271 – 1277.
Suj.: Bauer, alteinheimische Bauernfamilie. – 75 – Hat sein ganzes Leben den Bauernhof seines 1806 geborenen und mit 87 J. verstorbenen Vaters bewirtschaftet. Typus des bodenständigen, in patriarchalischen Verhältnissen aufgewachsenen, intelligenten und gebildeten Bauern. Sachlich und mundartlich bewusst altertümlich; ausgezeichnetes Suj." (Jaberg/Jud 1928, 55)
Was für eine Ausprägung des Dialekts wird ein solcher Informant an den Tag gelegt haben? Die Charakterisierung als "[s]achlich und mundartlich bewusst altertümlich" lässt vermuten, dass womöglich manches aus der Sprache des 1806 (!) geborenen Vaters reproduziert wurde und nicht gerade die "moderne Mundart" widerspiegelt. Gerade dieser Sprecher wird ausdrücklich als "ausgezeichnet" klassifiziert.
Weiterhin unterscheiden Jaberg und Jud sehr klar unterschiedliche Dimensionen der Variation:
"Auch die lautliche Einheit der Dorfmundart ist ein Mythus. Man stelle der Form des Gewährsmannes A nicht die Form des Gewährsmannes B gegenüber, um zu beweisen, dass die Form von A 'falsch' ist. A und B können beide 'recht haben', d.h. beide Formen können an dem in Frage stehenden Orte usuell sein, ohne dass sich die Sprechenden dessen bewusst sind. Sie können einer älteren oder einer jüngeren, einer sozial höheren oder tieferen, der Männer- oder Frauensprache angehören. Wer kennt die Sprachgewohnheiten auch seiner engsten Heimat ganz? Man beachte auch, dass unsere Gewährsleute meist der älteren Generation angehören, oft aus abgelegenen Weilern stammen und daher hie und da einen altertümlicheren Sprachzustand repräsentieren als der Durchschnitt der Bevölkerung im Hauptdorf der Gemeinde." (Jaberg/Jud 1928, 216)
Die hier identifizierte soziale (in moderner Terminologie: distratische), geschlechtsspezifische (diasexuelle), generationsspezifische (diagenerationelle) und demographische Variation nimmt Prinzipien der modernen Variations- und Varietätenlinguistik vorweg - die Einsicht in die fehlende "Einheit der Dorfmundart" harmoniert jedoch ebenfalls nichts mit dem Prinzip des repräsentativen Einzelinformanten.
Die Verschränkung von sozialer (diastratischer) und dialektaler (diatopischer) Variation wird aber nicht nur erkannt, sondern vielmehr systematisch verdrängt, wie der folgende, längere Passus sehr deutlich zeigt:
"Selbständig Erwerbende sind im Allgemeinen Abhängigen vorzuziehen; die schlechtesten Gewährsleute hat uns das landwirtschaftliche Proletariat der venetischen Ebene geliefert. Je fester der Bauer auf dem Eigenen sitzt, desto sicherer und bodenständiger ist auch seine Rede. Soziale Abhängigkeit erzeugt dem fremden Ausfrager gegenüber leicht eine gewisse Unterwürfigkeit, die der Zuverlässigkeit der sprachlichen Auskunft nicht zuträglich ist. Der Explorator wünscht nicht, daß man ihm zwei Ausdrücke zur Verfügung stellt mit der höflichen Bemerkung: „Come crede Lei“. Der sozial Abhängige paßt sich in seiner Rede dem sozial Höherstehenden leichter an als der Unabhängige. Wer annähme, daß die Mundart einer sozialen Schicht umso origineller sei, je tiefer sie in der gesellschaftlichen Hierarchie steht, würde sich täuschen. Der Berner Patrizier spricht ein bodenständigeres Berndeutsch als der Arbeiter in einem Industriequartier. Grobheit ist nicht mit Bodenständigkeit zu identifizieren.
Ein ebenso großer Irrtum wäre es andererseits, Intelligenz und Bildung zu verwechseln. Bildung gefährdet den Bestand der Mundart, weil ihr Vehikel die Schriftsprache ist; Intelligenz drückt sich ebenso gut mundartlich wie schriftsprachlich aus. Gerade in Italien findet man auch in den untersten Klassen oft eine Begabung, der keine entsprechende Bildung zur Seite steht. Ungebildete und dabei auch unverbildete Menschen von natürlicher Intelligenz stellen nun aber für den Dialektologen die besten Auskunftgeber dar." (Jaberg/Jud 1928, 190)
Die soziale Wertung, die hier zum Ausdruck gebracht wird, bedeutet ein massive, ideologisch motivierte Idealisierung (vgl. Krefeld 2005), besser: Verfälschung der variationslinguistischen Verhältnisse durch die systematische Ausblendung der bei der Feldforschung beobachteten Unsicherheit, die ja nichts anderes als sprecher(gruppen)spezifische und räumlich bedingte Variation ist.
Von diesen, in aktuellen Forschungsinteressen begründeten Vorbehalten abgesehen, ist der AIS nach wie vor eine grundlegende und vielfältig nutzbare Datenquelle.
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