Das Forschungsinteresse an diatopischer Variation hat in Gestalt der Sprachatlanten eine genuin vergleichende Gattung hervorgebracht. Es ist angesichts der ausgeprägten dialektalen Fragmentierung nicht überraschend, dass sich gerade diese Tradition in Italien sehr produktiv entfaltet hat (cf. den Überblick in (???)). Orientiert man sich
- am Verständnis der diatopischen Variation,
- an der Auffassung von Repräsentativität der sprachlichen Daten hinsichtlich der Informant*innen, Erhebungsorte und Erhebungsverfahren,
- an der medialen Konzeption und Realisierung,
lassen sich grosso modo drei methodologische Generationen unterscheiden, die zwar wissenschaftsgeschichtlich aufeinander aufbauen, aber heute dennoch parallel weiter entwickelt werden.
1. Atlanten der ersten Generation
Diese Arbeiten haben die Gattung begründet; charakteristisch ist (aus heutiger Sicht) ihre eindimensionale, nur auf die Diatopik zielende Sicht, ihre Beschränkung auf sorgfältig ausgewählte, aber einzelne Informanten in einem festen Netz von Erhebungspunkten und schließlich die Konzeption und Publikation unter den Bedingungen des Buchdrucks; alle Materialien werden ausschließlich mit dem Fragebuch (it. questionario) erhoben. In diese Generation gehören zwei großräumige nationale Atlanten, der noch nicht vollständig publizierte Atlante linguistico italiano ((???); (???)) und der Sprach- und Sachatlas Italiens und der Südschweiz ((???); ♦), der zum Prototyp aller romanischen Sprachatlanten avanciert ist; die Originalkartenbilder des AIS sind mittlerweile auch online konsultierbar (???), allerdings ohne die Möglichkeit eines Datenexports. Spezifisch, auch im Unterschied zum gattungsbegründenden Atlas linguistique de la France (???), ist die dezidiert ethnographische Ausrichtung dieser beiden und auch etlicher nachfolgender italienischer Regionalatlanten, die sich schon im Titel ausdrücklich als linguistico und etnografico bezeichnen, so z. B. der Atlante storico-linguistico-etnografico friulano (???) und der „Atlante linguistico ed etnografico del Piemonte Occidentale (???). Die Kehrseite dieser in dokumentarischer Hinsicht sinn- und wertvollen Ausrichtung ist die damit von Anfang an einhergehende Musealisierung der Dialekte, die so tut, als ob die moderne Alltagswelt keinen Eingang in die sprachliche Wirklichkeit fände; auf diese Weise ging das Fragebuch an der modernen Realität der Städte streckenweise vollkommen vorbei, obwohl beim AIS und ALI gerade die Einbindung urbaner Erhebungsorte (einschließlich der industrialisierten Großstädte wie seinerzeit bereits Turin (AIS P 155)), explizit zum Programm gehörte (♦). Neuere Projekte, wie z. B. der Atlante linguistico dell’italiano quotidiano“ ((???); ♦), zeigen schön, dass auch aktuelle Konzepte sogar auf der Ebene des italiano regionale durchaus mit oft zahlreichen Geosynonymen bezeichnet werden. Die Informant*innen der genannten Atlanten repräsentieren zwar keineswegs ein und denselben sozio-demographischen Typ (es sind unterschiedliche Bildungsniveaus, Altersklassen und Geschlechter vertreten), aber es werden abgesehen von den Doppelaufnahmen des AIS in Florenz (P 523) und (mit Einschränkungen) in Mailand (P 261) niemals mehrere Informant*innen deutlich unterschiedlicher Milieus systematisch nebeneinander gestellt; die beiden Informanten der Turiner (P 155) Doppelaufnahme zeigen einen recht ähnlichen sozialen Hintergrund.
In der Tradition des AIS steht der Vivaio Acustico delle Lingue e dei Dialetti d’Italia ((???); ♦), ein interaktiver Audio-Atlas, der einen großen Teil Italiens abdeckt; er ist nicht zuletzt wegen der Download-Funktion, die eine vielfältige Nachnutzung der Daten gestattet, sehr nützlich. In der klassischen Dialektologie und den daraus erwachsenen Atlanten stehen die Phonetik, Lexik und – schon weniger prominent – die Morphologie im Vordergrund. Andere Bereiche, v. a. die Syntax, aber auch die Pragmatik sind peripher; in den letzten Jahren ist ein starkes Interesse an Dialektsyntax entstanden, das v. a. durch die generative Syntax beflügelt wurde; diesem Ansatz ist die wichtige Dokumentation des Atlante Sintattico d’Italia“ (???) verpflichtet.
2. Atlanten der zweiten Generation
Die Atlanten der zweiten Generation setzen eine komplexere Konzeption der diatopischen Variation voraus; sie sind mehrdimensional und wollen der intradialektalen Variation in der diastratischen und diaphasischen Dimension gerecht werden; als vollständige sprachliche Systeme zeichnen sich ja die Dialekte – wie die Sprachen – durch interne Variation aus. Darüber hinaus wird die mittlerweile auf Grund der quasi selbstverständlichen Standardkompetenz allgemein verbreitete Zweisprachigkeit der Dialektophonen berücksichtigt, indem auch die eventuelle diatopische Färbung des Italienischen dokumentiert werden soll. Mit dieser Horizonterweiterung ist das Prinzip des repräsentativen Einzelinformanten ebenso hinfällig geworden wie die ausschließlich fragebuchgestützte Materialerhebung. Grundsätzlich geändert hat sich auch das Format der sprachlichen Materialien, die nun in Gestalt von mehr oder weniger gut strukturierten digitalen Daten vorliegen. Die Überwindung dieser ersten informationstechnischen Schwelle der Digitalisierung bedeutete einen großen Fortschritt; er schlug sich zunächst in der Bereitstellung von Audio-Daten nieder, die in Kombination mit Printveröffentlichungen (so im Rahmen des (???)) oder in selbstständiger Form (so im Rahmen des (???)) auf digitalen Tonträgern (CD, CD-ROM, DVD) publiziert wurden. Exemplarisch für die zweite Generation ist der von Giovanni Ruffino initiierte und geleitete Atlante linguistico della Sicilia ((???); vgl. die sehr detaillierte Vorstellung in (???); ♦). Dieses gewaltige Projekt erhebt in unterschiedlichen Ortsnetzen zwei Serien von Daten, die als sociovariazionale (i) und etnodialettale (ii) spezifiziert werden. Befragt werden Informant*innen aus drei Altersgruppen und zwei Bildungsschichten, und zwar sowohl zum Sizilianischen wie zum Regionalitalienischen; neben unterschiedlichen, teils onomasiologisch ganz spezifischen Fragebüchern (u. a. zu Ernährungsgewohnheiten, Kinderspielen, Jagd, Fischfang, Hirtenkultur) wurden zahlreiche sog. Ethnotexte erhoben, die teils auch in innovativer und mustergültiger Weise direkt in die Bedeutungsangaben ethnolinguistischer Wörterbücher eingehen (???). Damit ist schon angedeutet, dass die noch nicht vollständig vorliegenden, sehr umfangreichen Ergebnisse in ganz unterschiedlichen, teils kombinierten Gattungen veröffentlicht werden (Karten, Wörterbücher, thematische Monographien, theoretisch-methodologische und praktisch-methodische Handbücher), so dass man tatsächlich von einem „archivio multifunzionale“ (Ruffino) sprechen darf, das den Anspruch erheben kann, ein „‘Atlante linguistico della Sicilia’, non un ‘Atlante di 1000 o 2000 abitanti della Sicilia’“ (???) zu sein. Das Unternehmen hat in empirischer und theoretischer Hinsicht vollkommen neue Maßstäbe gesetzt.
Der zweiten Generation ist ursprünglich auch der kleine Atlante sintattico della Calabria (???) zuzuordnen, wenngleich er als (???) in die dritte Generation überführt werden konnte. Hier wurde ein durch Harald Thun inspiriertes Verfahren eingesetzt, das die synoptische Kartierung mehrerer Informanten(gruppen) pro Ort gestattet. Jeder Dialekt wird idealerweise durch 8 Sprecher*innen aus ein und derselben Familie repräsentiert, von denen vier in Kalabrien und vier in postmigratorischem Kontext in Deutschland leben. In jedem Quartett sind eine Sprecherin und ein Sprecher der älteren Generation und eine Sprecherin und ein Sprecher der jüngeren Generation vertreten. Die Visualisierung erfolgt durch Quadrantensymbole, so dass jedem Informantentyp eine spezifische Position in einem Vierfelderschema entspricht: In der oberen Reihe sind die Informant*innen der älteren, in der unteren diejenigen der jüngeren Generation; links sind die Sprecher, rechts die Sprecherinnen; das Quartett der in Deutschland lebenden Sprecher*innen ist durch ein 'D', dasjenige der in Italien lebenden Sprecher durch ein 'I' gekennzeichnet. Die Quadrantensymbole können in der Online-Version angeklickt werden, um zum Beleg zu gelangen, der in transkribierter und auditiver Version erscheint. Aus einer Karte wie der folgenden geht also hervor, dass zwei ältere Sprecherinnen (aus Mileto [= Mil] und Cariati [= Car]) im Migrationskontext das Possessivum tuo in Beispielsatz F40 („Il tuo libro, te lo darò domani.“) nur in proklitischer Position (links vom Nomen) verwenden und sich darin von allen anderen Informant/innen dieser beiden Dialekte unterscheiden; da die Proklise dem zu übersetzenden Beispielsatz (Stimulus) und somit auch dem Standarditalienischen entspricht, darf man eine gewisse Standardorientierung des Informantentyps ‘ältere Sprecherinnen im Migrationskontext’ vermuten.
3. Atlanten der dritten Generation
Mit dem konsequenten Einsatz von Webtechnologie wurde eine zweite informationstechnische Schwelle überwunden, die nun sehr gravierende Implikationen methodologischer Art mit sich brachte. Die neuen Optionen lassen sich am Beispiel des Projekts (???) exemplifizieren (♦); sie ermöglichen die Nachnutzung vorhandener Daten durch Retrodigitalisierung und haben substantiell neue und bessere Formen der Kooperation geschaffen, sowohl zwischen unterschiedlichen Projekten durch systematischen Datenaustausch als auch zwischen Projekten und Informant*innen durch kontinuierliche Erhebung neuer Daten (auf dem Wege von sog. Crowdsourcing) bei gleichzeitiger Erweiterung des Ortsnetzes. Außerdem ermöglichen virtuelle, webbasierte Forschungsumgebungen den unvermittelten Wechsel zwischen verschiedenen, direkt verknüpften Darbietungsformen, also zum Beispiel zwischen Lexikographie und Kartographie. In der Lexikographie eröffnen sich mehrere Abfragerichtungen, von der Sache zum Wort und vom Wort zur Sache, und in der Kartographie unterschiedliche Visualisierungsweisen nach konkreten Sprachbelegen, abstrakten Symbolen oder quantitativen Gruppierungen. Schließlich können die sprachlichen Daten leicht durch solche nichtsprachlichen Daten demographischer, historischer und ethnographischer Natur angereichert werden, die für das Verständnis der variationellen Dynamik wichtig sind.
ja, gut. habe ich uebernommen