Graffiti – Wie Perzeption Bewegung in die linguistic landscape bringt


Schlagwörter: Graffiti , Linguistic Landscape , Perzeption , Semiotik

Das Titelbild stammt aus Bologna und wurde 2005/6 aufgenommen (Quelle: Müller 2006b).

1. Medialität und Materialität bei der Produktion und Perzeption von Zeichen

Die Perzeption sprachlicher Nachrichten und damit einhergehender außersprachlicher Faktoren spielt beim Aufbau und bei der Organisation des Sprecherwissens eine zentrale Rolle, die im Schema aus Krefeld / Pustka 2014 modelliert wurde: 

Modellierung von Sprachproduktion und -perzeption nach Krefeld/Pustka 2014, 14

Diese perzeptionsorientierte Modellierung von Sprecherwissen und Sprachhandlungen ist abstrakt und muss je nach Forschungsinteresse präzisiert werden. So wird weder die Materialität noch die Medialität sprachlicher Äußerungen explizit berücksichtigt, obwohl es sich um ganz fundamentalen Faktoren bei der Perzeption und Produktion handelt. Materialität und Medialität sind eng und nicht selten untrennbar miteinander verknüpft, wie es sich gerade bei der Analyse einer linguistic landscape in ganz selbstverständlicher Weise zeigt. Theoretisch und methodologisch müssen Medialität und Materialität jedoch scharf unterschieden werden.

Die materielle und fakultativ mediale Basis von Sprachproduktion und -perzeption

Primäre Materialität der Sprache ist artikulatorisch produzierter Schall, der  auditiv perzipiert wird. Dieser Kommunikationskanal funktioniert nur unter Face-to-face-Bedingungen; er ist elementar und erklärt die zeitlich lineare Struktur der sprachlichen Zeichen: Trotz aller Koartikulationseffekte folgt ein Laut folgt dem anderen.

Nicht mediale Produktion und Perzeption von Sprache unter Face-to-Face-Bedingungen

Wenn jenseits von Face-to-face-Bedingungen sprachlich kommuniziert wird, sind in jedem Fall Medien im Spiel; Medien können einfache technische Hilfsmittel der Schallverstärkung (z.B. ein Trichter) oder komplexe technische Apparaturen und Prozeduren sein; am anspruchsvollsten sind digitale Medien, die darum zu Recht als ‚digitale Medienkomplexe‘ bezeichnet werden können (den Ausdruck verwendet Katharina Franko 2019). Man denke etwa an das folgende, ganz und gar übliche Verfahren gesprochene Sprache digital aufzuzeichnen und die Datei mit einem QR-Code zugänglich zu machen, so dass sie digital (z.B. mit der Smartphonekamera) erkannt und akustisch wieder ausgegeben wird. In dieser Art der Übermittlung sprachlicher Information ist eine Maschine-Maschine- Kommunikation in eine Mensch-Mensch-Kommunikation eingebettet:

Mensch produziert → [Maschine produziert  → Maschine perzipiert und produziert] → Mensch perzipiert

Unser Schema kann also für die Distanzkommunikation wie folgt spezifiziert werden:

Mediale Produktion und Perzeption von Sprache unter Distanz-Bedingungen

Das sprachliche Urmedium ist die Schrift, insbesondere die Lautschrift, da sie die akustische Linearität des Zeichens mehr oder weniger ikonisch als Folge von Lautzeichen (Buchstaben) wiedergibt. Gerade die Schrift zeigt sehr deutlich die Notwendigkeit zwischen Medialität und Materialität zu unterscheiden. Denn einerseits ist geschriebener (medialer) Text portabel, wenn er auf einem entsprechenden Träger (materiell) angebracht ist; Notizen, Briefe, Bücher usw. können von einem fast beliebigen Ort an einen fast beliebigen anderen geschickt werden. Es ist ja wahrscheinlich die wichtigste Funktion der Schrift die sprachlich übermittelte Information aus der Bindung an die Face to Face-Situation und die physische Kopräsenz der Kommunikationspartner am selben Ort zu befreien.

2. Ortsfeste Zeichen oder: Semiotic Landscape

Andererseits wird schriftliche Information aber auch ortsfest angebracht, und genau um ortsfeste Zeichen geht es im Folgenden, denn sie bilden den Gegenstand der sogenannten linguistic landscape (vgl. Landry/Bourhis 1997, Barni/Bagna 2009). Dabei kommen ganz unterschiedliche Träger zum Einsatz; im Deutschen gibt es in Gestalt des Worts Schild sogar eine spezielle Bezeichnung für starre Flächen (mit oder ohne Pfosten), die ausschließlich den Sinn haben, sprachliche und nicht sprachliche Zeichen im Raum zu kommunizieren. Schilder sind jedoch keineswegs der einzige Träger ortsfester Zeichen. Mindestens die folgenden Kategorien lassen sich unterscheiden:

  • Schilder
  • Aufschriften (Information mit indexikalischer und symbolischer Ortsreferenz)

    LENBACHHAUS KUNSTBAU  | GERHARD RICHTER 4.06. - 21.08.2005 (Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/St%C3%A4dtische_Galerie_im_Lenbachhaus#/media/Datei:Lenbachhaus-Kunstbau_Underground.jpg)

  • Inschriften (mit indexikalischer und mit/ohne symbolische/r  Ortsreferenz, Information allgemein)

DEM SIEG GEWEIHT · VOM KRIEG ZERTÖRT · ZVM FRIEDEN MAHNEND (Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Siegestor#/media/Datei:M%C3%BCnchen_Siegestor.JPG)

In München gibt es nur - aber immerhin - virtuelle Stolpersteine (300 Audiodateien), die im Projekt Memory Loops von Michaela Melián über einen virtuellen Stadtplan zugänglich gemacht wurden. Für einen Teil davon gibt es ortsfeste Zugänge in Gestalt von 60 Memory Loops-Schildern, auf den Telephonnummern kommunizierte werden, die bei Anruf die Audiodatei abspielen (dergleichen könnte inzwischen natürlich viel leichter und in größerem Maßstab über QR-Codes bewerkstelligt werden).   

  • Grafitti (s.u.)

Zusammenfassend lassen sich die genannten ortsfesten Zeichenkategorien wie folgt schematisieren: 

Portable und ortsfeste Zeichen

2.1. Komplementäre Codes und Typen

Vor allem im Fall der Schilder und Grafitti sind diverse Zeichentypen oft eng und in vielfältiger Weise miteinander verschränkt, wie das folgende Photo sofort erkennen lässt:

Schilder in Guntersblum (Rheinland-Pfalz, Deutschland; Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Verkehrszeichen_(Deutschland)#/media/Datei:Guntersblum-_Hauptstra%C3%9Fe-_Einm%C3%BCndung_der_Eimsheimer_Stra%C3%9Fe_7.5.2011.JPG)

Hier eine Übersicht über die Unterschiedlichen Codes und semiotischen Funktionsweisen:

Codes

  • Farben (weiß, schwarz, rot, blau gelb),
  • Formen (Kreise, Rechtecke, Pfeile),
  • ein Sprache (deutsch),
  • Zahlen (einzelsprachunabhängig).

2.1.1. Semiotische Funktionsweisen

  • symbolisch
      • die Bedeutung aller Wörter,
      • die Bedeutung der Zahlen,
      • manche Farben (rot und gelb],
      • manche Formen (Kreis, vielleicht Pfeil),
  • ikonisch
      • Abbildung des Lastwagens,
  • indexikalisch
      • Richtungshinweise ('vor diesem Schild nach rechts, wenn du nach nn willst'),
      • Begrenzung von Zonen ('ab diesem Schild höchstens Geschwindigkeit nn fahren' u.a.).

Auch im Fall der Graffiti findet sich häufig eine enge, nicht selten kreative und auch ästhetisch ambitionierte Verbindung von Bild und Text.

Graffito aus Bologna,  USATO POCO. PRATICAMENTE NUOVO. VENDO CAUSA: MANCATO UTILIZZO 'Wenig gebraucht. Praktisch neu. Verkaufe wegen: Nichtbenutzung' (Quelle: Müller 2006)

Inzwischen werden neben menschenlesbaren Formen bereits maschinenlesbare Codes eingesetzt; ein Beispiel ist ein berühmtes Streetart-Gemälde von Banksy auf dem Gebäude der französischen Botschaft in London. Auf dem Bild ist neben einer Figur (Cosette) aus dem Roman Les Misérable (1862) von Victor Hugo, einer Tränengaswolke und einer leeren Tränengasdose auch ein nur maschinenlesbarer QR-Code angebracht. Er führt zu einem Video, auf dem der Polizeieinsatz gegen das Flüchtlingscamp Jungle bei Calais zu sehen ist (vgl. https://www.graffitistreet.com/banksy-hits-the-french-embassy-with-tears-in-his-eyes/).

Es ist damit zu rechnen, dass maschinenlesbare Zeichen mit der Entwicklung des autonomen Fahrens stark zunehmen werden. In jedem Fall ist es angesichts der engen Verschränkungen sprachlicher, nicht sprachlicher, menschenlesbarer und maschinenlesbarer Zeichen  angemessener von semiotic landscape1 anstatt von linguistic landscape zu reden. Abgesehen von allen Zukunftsperspektiven steht die Tatsache außer Frage, dass semiotische Systeme unsere Orientierung und unser Verhalten im öffentlichen Raum ganz maßgeblich beeinflussen und nicht selten geradezu steuern. Auch, wenn es uns nicht immer gegenwärtig ist, bewegen wir uns permanent in kommunikativen Räumen.

3. Graffiti Landscapes

Über die offenkundigen semiotischen Gemeinsamkeiten hinaus unterscheiden sich die Graffiti von den Schildern dadurch, dass ihre Anbringung in aller Regel Eigentumsrechte missachtet, sie sind juristisch betrachtet als Sachbeschädigung im Sinne des StGB, § 303, Absatz 2 zu sehen:

"§ 303 Sachbeschädigung
(1) Wer rechtswidrig eine fremde Sache beschädigt oder zerstört, wird mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.
(2) Ebenso wird bestraft, wer unbefugt das Erscheinungsbild einer fremden Sache nicht nur unerheblich und nicht nur vorübergehend verändert.
(3) Der Versuch ist strafbar." (StGB, § 303)

3.1. Eine exemplarische Fallstudie zu Rom (Lasch 2022)

Gegenstand dieser umfangreichen Dissertation sind dominant sprachbasierte Graffiti, sog. scritte murali (oder mit der span. Bezeichnung murales). Diese in mancher Hinsicht besondere Schreibtradition lässt sich als

transgressive und informell-private […] Kommunikationsform beschreiben, die im öffentlichen Raum angebracht und durch bestimmte Techniken realisiert wird“ (Lasch 2022, p:77; Hervorhebungen im Orig.).

Für die empirische Grundlage der Untersuchung wurden insgesamt in 13 Stadtbezirken und 150 Straßenkilometern der Stadt Rom 3294 Scritte photographisch dokumentiert, von Hand transkribiert, digitalisiert und in ein vorbildlich strukturiertes Datenkorpus transferiert (vgl. Lasch 2022, p:307 und p:313).

Dafür wurde eine Software benutzt, die in Zusammenarbeit mit dem Verf. von einem Informatikstudenten für eine Vorstudie des Projekts in Gestalt einer Master-Arbeit entwickelt wurde (GIAnT; vgl. Kap. 5.2.2.); dieses Tool liefert eine Oberfläche für die Darstellung der photographierten Graffiti einerseits und andererseits für deren Georeferenzierung, Transkription, Lemmatisierung und Annotation. Annotiert wurden die folgenden Attribute bzw. Attributsklassen (p:293):

  • Sprachliche Zeichen und diesen untergeordnet die Klassen
      • Lexik (Wortfelder/Schlüsselwörter/Frames)
      • Sprachen und dialektale Varianten
      • Kürzungsverfahren
      • Wortarten
      • Syntagmatik
  • Bildgraphische Zeichen
  • Tokenzahl (sowohl sprachliche als auch bildgraphische Zeichen)
  • Farbe
  • Typographie
  • Träger
  • Erstellungswerkzeug

Überblick:

http://www.kit.gwi.uni-muenchen.de/?band=scritte-murali-multimodale-analyse-der-kommunikationsstrategien-am-beispiel-des-urbanen-raum-roms#p:341 

Weiterhin wird jede Scritta einer von 7 semantisch definierten Domänen (p:344) zugeordnet, die unterschiedlich stark vertreten sind: POLITIK, ULTRAS, EXPRESSIVITÄT, DIVERSES (diese vier Domänen machen zusammen 97 % des Gesamtkorpus aus), IDEOLOGIE (1.60 %), RELIGION (1.23 %) und FEMINISMUS (0.94 %) (vgl. zu den %-Angaben p:603).

Die Domänen werden nicht thematisch aus den Texten abgeleitet, sondern aus den kognitiven Frames, die sie (mutmaßlich) beim Rezipienten abrufen. Im Einzelnen erläutert Verf. seine Vorgehensweise im Fall  problematischer Domänenzuordnungen durch folgendes Beispiel (p:345 f.): Die beiden Scritte (a) und (b) sind Digramme, die sich in der ersten Konstituente unterscheiden:

  1. Marco boia
  2. Laziale boia

Im Fall b) wird durch die erste Konstituente (Laziale ‘Fan des Fußballvereins Lazio Rom’) ein abstrakter Frame ULTRAS aufgerufen, im Fall a) steht jedoch kein entsprechender Frame zur Verfügung, denn Marco hat als Eigenname nur eine (den meisten Lesern wohl unklare) Referenz. Daher ist in diesem Fall a) die zweite Konstituente (das Schimpfwort boia ‘Henker’) für die Domänenzuordnung relevant (→ EXPRESSIVITÄT).

Natürlich ist die Zuweisung einer Scritta zu einer Domäne nicht immer ganz eindeutig, so dass gelegentlich auch zwei Domänen zugeordnet werden müssen.

Eine kartographische Übersicht des erfassten und georeferenzierten Materials, die hier durch einen sogenannten iframe  eingeblendet wird, zeigt die römischen Graffiti-Landscape in exemplarischer  und in mancher Hinsicht vielleicht repräsentativer Weise:

Die Farbgebung entspricht derjenigen in Abb. 9 (blau: Politik, gelb : Ultra, grün: Express usw. (URL der interaktive Originalkarte:  https://umap.openstreetmap.de/de/map/domanenverteilung-in-den-erhebungsgebieten_7001#13/41.9140/12.5054)

Ein Rechtsklick auf die Karte eröffnet ein Menu mit Filtermöglichkeiten nach Domänen und einzelnen Attributen (z.B. Bildzeichen).

3.2. Transgressive Zonierung durch politische Graffiti

Es ist es nun sehr interessant die drei häufigsten Domänen - POLITIK, ULTRAS und EXPRESSIVITÄT - zu vergleichen. Denn sie unterscheiden sich sehr deutlich in kommunikationsräumlicher Hinsicht, durch unterschiedliche Arten der Raumbildung und eine damit offensichtlich einhergehende, unterschiedliche Art der Perzeption.

Aus der Analyse ergibt sich zunächst,

„dass eine der Hauptfunktionen politischer Scritte die Markierung von geographischen Gebieten zu sein scheint, wobei weniger die kommunizierten Inhalte von Bedeutung sind, sondern eine ‘Labelung’ des Gebietes stattfindet, wodurch letztlich kommunikative Räume geschaffen und erhalten werden.“ (Lasch 2022, p:728)

Die Domäne POLITIK lässt sich in eine politisch ‘linke’ und eine ‘rechte’ Subdomäne unterteilen, aus deren lokaler Distribution sich entsprechende Zonen ergeben: den ‘links’-markierten Vierteln Tufello, Garbatella, San Lorenzo, Pigneto und der Gegend um  die Università La Sapienza (Verbreitungskarte https://umap.openstreetmap.de/de/map/scrimuro-heatmap-subdomane-linkspolitisch-und-anar_8450#14/41.8906/12.5026) stehen die ‘rechts’-markierten Viertel Prati, Monteverde, Quartiere Africano, Nomentano, Vatikanstadt und Conca D’Oro/Prati Fiscali gegenüber (Verbreitungskarte https://umap.openstreetmap.de/de/map/scrimuro-heatmap-subdomane-rechtspolitisch_8799#13/41.9223/12.4933; vgl. Lasch 2022, p:729). Die semantische Eindeutigkeit der Markierung wird auch typographisch zum Ausdruck gebracht, etwa im Fall von ‘rechts’ durch den sogenannten ‘Fascio Font’ (vgl. Lasch 2022, p:222 und pass.). Verf. geht weiterhin davon aus, dass sich die politischen Scritte

„zuerst an ortsansässige Personen richtet, die sich in diesem Raum regelmäßig bewegen, und erst danach an Rezipienten, die sich nur sporadisch oder ausnahmsweise in diesem Raum wiederfinden“ (Lasch 2022, p:722).

Die politischen Scritte wären daher gewissermaßen als eine identitätsstiftende Ingroup-Kommunikation zu verstehen. Beispielhaft ist die politische 'linke' Markierung eines Eingangs zum römischen Stadtviertel Tufello:

Eingangsmarkierung Tufello

Lokalisierung der Eingangsmarkierung Tufello

Der über die oben markierte Scritta (Abb. #10#) markierte Eingang zum Viertel Tufello bildet mit zahlreichen anderen 'linken' Graffiti eine zusammenhängende Zone, wie die folgende Karte ganz eindeutig zeigt. Es findet also gewissermaßen eine deklarative politische Aneignung statt, mit der Intention die semiotic landscape zu kontrollieren.

Eingangsmarkierung Tufello mit anschließender Zone 'linker' Scritte (Via delle Isole Curzolane, https://umap.openstreetmap.de/de/map/scrimuro-heatmap-subdomane-linkspolitisch-und-anar_8450#18/41.94885/12.53060)

Zwar suggeriert der Ausdruck landscape eher statische, sozusagen geographische Verhältnisse, aber die Tatsache, dass Graffiti jeder Zeit, sozusagen aus dem Nichts,  von einzelnen Produzenten angebracht werden können und auch tatsächlich angebracht werden, zeigt, dass wir es mit einer dynamischen Kommunikationsform zu tun haben, also weniger mit dem Attribut einer landscape als mit einem aktiven Verfahren von landscaping2.

3.3. Perzeption und aktives Landscaping durch Graffiti

Für diese Sicht spricht insbesondere die Betrachtung der zweithäufigsten Domäne, die Sebastian Lasch in seiner Untersuchung unterscheidet, nämlich die als ULTRAS etikettierten Scritte der organisierten Fußball-Fanclubs; im Wesentlichen stehen sich die Lager der beiden großen römischen Vereine, AS Rom und Lazio Rom, gegenüber. Zwar gibt es durchaus Gemeinsamkeiten in der Lokalisierung:

"Die Distribution der ULTRAS-Scritte in den Erhebungsgebieten ist auch im Vergleich mit den politischen Texten interessant. Eine Analogie lässt sich schnell erkennen und zwar, dass auch die von Ultras erstellten Texte Richtung Stadtzentrum bzw. in der Nähe der Touristenzentren abnehmen oder besser gesagt, gar nicht erst zu finden sind, und dies noch deutlicher als es bei der POLITIK-Domäne der Fall ist. Lediglich eine Scritta wurde in Zentrumsnähe gefunden, welche jedoch übermalt wurde." (Lasch 2022, p:792)

Lasch vermutet nun, dass die Botschaft dieser Scritte in allererster Linie "auf dem Ab- und Aufwerten der Vereine" und im Unterschied zur Domäne POLITIK nicht in der "Übermittlung von programmatischen Inhalten" liege. Deshalb zielten die Scritte der Domäne ULTRAS in erster Linie gerade nicht auf die eigene Gruppe, sondern auf „die gegnerischen Ultragruppen“ (Lasch 2022, p:789). In dieser Domäne ginge es also eher um Wettkampf als um dauerhafte areale Dominanz. Vor dem Hintergrund der sehr polarisierten Konkurrenz der beiden Vereine hätte die öffentliche Manifestation  des Logos, des Vereinsnamens oder des Namen eines berühmten Spielers eines der beiden Clubs eine stark provozierende Wirkung auf Anhänger des jeweils anderen Clubs.

Es wird - mit anderen Worten ein spezifisches Perzeptionsmuster vorausgesetzt, das in einer besonderen Sensibilisierung fanatischer Fußballfans für öffentlich bekundete Vereinssympathie bestünde. Diese Vermutung wird durch die offenkundige Anfälligkeit der ULTRAS-Graffiti für Modifikationen in überzeugender Weise gestützt, denn „[k]napp jede zweite ULTRAS-Scritta wird modifiziert (49 %), wodurch Modifikation[...] in Abgrenzung zu den anderen erfassten Domänen ein integraler Bestandteil wird“ (Lasch 2022, p:477). Die Wahrnehmung mündet also häufig in eine direkte Reaktion in Gestalt einer graphischen Produktion.

Im Einzelnen lassen sich unterschiedliche Modifikationstypen, wie Elision, Addition, Substitution u.a. unterscheiden (vgl. den Überblick unter: https://www.kit.gwi.uni-muenchen.de/?band=scritte-murali-multimodale-analyse-der-kommunikationsstrategien-am-beispiel-des-urbanen-raum-roms&v=0#p:380).

Hier ein Beispiel:

ScrittaID 27248
Scritta gesamt NOI TRICOLORE VOI DI COLORE ! NOI LAZIALE RAZZISTA MORIRAI UR

Hand 1 [NOI, TRICOLORE, VOI, DI, COLORE, !]
Hand 2+ [NOI], [LAZIALE], [RAZZISTA], [MORIRAI], [UR]

Domänen Ultras, Ideologie
Subdomänen Ultras Vereine Konflikt (Ult), Rassismus (Ideo)

Lemmata [noi, tricolore, voi, di, colore, laziale, razzista, morire, Ultras Roma]
POS [PRO:pers, NOUN, PRE, SENT, VER:fin, NPR]
Bildgraph. Zeichen []
Sprache [Italienisch, Interlingual]

Emendation
Konjektur
Hände gesamt [1, 2]
Anzahl Token (gesamt) 11

Farben [Schwarz]
Typographie [Arbiträr, N/A, Elaboriert]
Träger [Hauswand]
Erstellungswerkzeug [Spraydose]

Link zu Token
Link zu Foto (Vollbild) http://www.kit.gwi.uni-muenchen.de/wp-content/uploads/ScriMuRo20/IMG_20170329_133853.jpg

Wie es scheint, wurde ein Text erster Hand: NOI TRICOLORE VOI DI COLORE 'wir [stehen für] die Tricolore, ihr [seid] Farbige' durch eine zweite Hand in ... NOI DI COLORE umgewandelt (V → N durch Ergänzung eines Striches) und außerdem durch den Kommentar LAZIALE RAZZISTA MORIRAI '[du] rassistischer Anhänger von Lazio wirst sterben' ergänzt. 

In der Regel besteht diese Modifikation darin, dass der Name des einen Clubs (AS Roma bzw. Lazio) übermalt und durch den jeweils anderen ausgetauscht wird, wie z.B. im folgenden Beispiel, wo der Name LAZIO sowie weiterer Text weiß übermalt wurde; auch das faschistische Emblem des sogenannten Keltenkreuzes (⊕) wurde anscheinend durch das Emblem der sogenannten Autonomen übermalt: die Modifikation der Datumsangaben dürfte sich auf Spiele der Clubs beziehen.

Original http://www.kit.gwi.uni-muenchen.de/wp-content/uploads/ScriMuRo20/IMG_2014_220703%20(1).jpg

Die skizzierte Modifikation von Graffiti lässt sich gut mit den Kategorien der linguistischen Pragmatik beschreiben (vgl. Austin 1962). Grundlegend dafür ist die Unterscheidung zwischen drei unterschiedlichen Handlungsebene sprachlicher, besser: kommunikativer Äußerungen:

  • dem lokutionären Akt oder den tatsächlichen produzierten Zeichen; 
  • dem illokutionären Akt oder der Absicht, die der Produzent tatsächlich verfolgt, oder die in der Perzeption verstanden wird; 
  • perlokutionären Akt oder der Reaktion auf die Perzeption.

In Anwendung auf das vorhergehende Beispiel ergibt sich u.a.:

Lokution LAZIO MERDA
Illokution provokative öffentliche Beleidigung aller Fans von Lazio Rom
Perlokution Modifikation der Lokution durch Elision (LAZIO) und Addition (AS) 

Jede Modifikation der beschriebenen Art ist selbstverständlich wiederum eine provokative beleidigenden Illokution mit entsprechenden perlokutionäeren Reaktionen usw. Auch hier wird deutlich, wie wichtig die Erweiterung der linguistic landscape zur semiotic landscape ist, denn  die spezifisch sprachliche Lokution kann auf das Minimum eines einzigen bildgraphischen Zeichens reduziert werden, das eigentlich gar keine Aussage mehr macht, sondern nur auf eine Gruppe/Bewegung referiert (wie in der folgenden Abb. 13). 

Natürlich werden auch Scritte anderer Domänen modifiziert, insbesondere im Bereich POLITIK, der sich ohnehin mit der Domäne ULTRAS überschneidet. Die politischen Embleme funktionieren dabei ähnlich provokativ wie die Vereinsnamen, wie das folgende Beispiel exemplarisch zeigt:

Abe insgesamt sind die Häufigkeitsverhältnisse sehr eindeutig:

Domäne Anteil modifizierter Scritte Quelle
ULTRAS 49% p:477
POLITIK 27,23% p:427
EXPRESSIVITÄT 7% p:530
alle 23,28% p:379

Man beachte vor allem den sehr viel geringeren Anteil an modifizierten Scritte in der Domäne EXPRESSIVITÄT, die mit der fehlenden Salienz zu tun haben dürfte; im Wesentlichen geht es in dieser Gruppe um (un)glückliche, private Liebesbeziehungen, d.h. die Adressaten sind individualisiert und nicht anonyme Vertreter einer bestimmten Gruppe. 

Die stärkere Personalisierung äußert sich auch in der Verwendung der 1. und 2. Person Sg., in einer größeren und stärker variierenden Zahl von Tokens sowie in einer anderen Nutzung der Materialien und Trägerflächen; so werden z.B. Scritte auf dem Boden angebracht, damit sie aus einem hoch gelegenen Fenster gut gelesen werden können. In jedem Fall ist es naheliegend, dass sich andere als die individuell adressierten Perzipienten von dergleichen Botschaften nicht hinreichend zu einer mehr oder weniger aufwändigen Modifikation stimuliert fühlen.

Nebenbei zeichnet sich in der Szene auch ein ethnographisch interessanter Verhaltenskodex ab, so z.B. die Tatsache, dass die nicht ganz seltenen Scritte zum Gedenken an tote Identifkationsfiguren (Spieler, politische Akteure) niemals modifiziert werden (vgl. Lasch 2022, p:709).

In anderer Bedeutung wird dieser Ausdruck in Eckert 2019 verwendet; dort bezeichnet er die "soziale Umgebung eines indiviuellen Sprechers im Hinblick auf ihre semiotische Relevanz: "A landscape is a perspective on one’s surroundings, and one’s social-semiotic landscape develops throughout life as one’s time, place and social engagement expand. Every individual has a unique landscape, but what is individual is located within – and constructed in dialogue with – those who co-occupy the landscape. This process begins in infancy, and one’s linguistic productive and receptive repertoire is a continual process of making one’s way through the landscape."
Der Ausdruck ist doppeldeutig, da er einerseits, wie in diesem Kontext, die Gestaltung der landscape bezeichnet und andererseits auch ihre Beschreibung

Bibliographie

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  • Barni/Bagna 2009 = Barni, Monica / Bagna, Carla (2009): A Mapping Technique and the Linguistic Landscape, in: Gorter/Shohamy, 126-138.
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  • Lasch 2022 = Lasch, Sebastian (2022): Scritte Murali – Analyse der Kommunikationsstrategien am Beispiel des urbanen Raum Roms, in: Korpus im Text, vol. 13, München, LMU (Link).
  • Müller 2006b = Müller, Katharina (2006): "Perché siamo qua?" - Eine linguistische Betrachtung der Graffiti in Bologna, München, LMU (unveröff. Magister-Arbeit).
  • StGB = StGB: Strafgesetzbuch (Link).

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