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Die romanischen Sprachen – und ihre Sprechergemeinschaften

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Zitation: Thomas Krefeld (2020): Die romanischen Sprachen – und ihre Sprechergemeinschaften. Version 4 (01.11.2020, 11:24). Lehre in den Digital Humanities. , url: https://www.dh-lehre.gwi.uni-muenchen.de/?p=80001&v=4



 

1. Die Romania, oder die romanischsprachigen Gebiete

Sprachen sind für die Organisation und das Funktionieren unserer sozialen Räume  grundlegend; in Europa spielen drei Sprachfamilien auf Grund ihrer Verbreitung, ihrer kulturellen Bedeutung und ihrer historischen Tiefe eine besondere Rolle: die romanische, die germanische und die slawische. Von einer Sprach‘familie’ spricht man dann, wenn eine Gruppe von Sprachen sich offensichtlich aus einer gemeinsamen Ausgangssprache entwickelt hat. Als ‘romanisch’ bezeichnet man die Sprachen, die sich in ununterbrochener Weitergabe von Eltern an ihre Kinder aus dem Lateinischen entwickelt haben (vgl. grundlegend Lüdtke 2005; vgl. auch Krefeld 2004c); der italienische Name lingue neolatine ‘neulateinische Sprachen’ bringt diese Überlieferungskontinuität gut zum Ausdruck.  Die romanische Sprachfamilie ist von besonderem Interesse für die historische Sprachwissenschaft, da ihre Ausgangssprache, das Lateinische, recht gut bekannt ist (vgl. Vorlesung 2). Insbesondere verfügen wir im Unterschied zur slawischen und germanischen Familie auch über eine breite schriftliche Überlieferung und können den Prozess der Differenzierung in zahlreiche regionale und lokale Ausprägungen verhältnismäßig gut nachvollziehen. Die Gesamtheit der Gebiete, in denen romanische Sprachen gesprochen werden, bezeichnen wir als Romania. Im Hinblick auf die historische Kontinuität und den Zeitpunkt ihrer Verbreitung ist es nützlich drei Gruppen zu unterscheiden.

1.1. Die ‘alte’ Romania

Dazu rechnet man die Sprachgebiete, die bereits Teil des römischen Reichs waren, und in denen noch heute eine romanische Sprache gesprochen wird. Diese Gebiete wurden also bereits in der Antike durch Latein sprechende Römer romanisiert; man darf davon ausgehen, dass sich schon bald nach der Romanisierung in den jeweiligen Gebieten sprachliche Besonderheiten herausbildeten. Dazu haben mehrere Faktoren beigetragen, insbesondere der Kontakt mit schon vorher vorhandenen Sprachen und die Tatsache, dass die Romanisierung teilweise durch Personen getragen wurde (z.B. durch Söldner), die Latein selbst nicht als Muttersprache (L1), sondern als mehr oder weniger spät und womöglich nicht sehr gut erworbene Fremdsprache (L2) redeten; auch die Einbindung der Gebiete in die römische Infrastruktur (Urbanisierung, Straßennetz usw.) spielten bei der weiteren Entwicklung eine Rolle.

1.2. Die Romania submersa

Mit diesem lateinischen Ausdruck bezeichnet man die ‘untergegangene’ Romania (vgl. Vorlesung 4), die Gebiete also, die zwar in der Antike romanisiert wurden, aber in denen später ein Sprachwechsel zu nicht romanischen Sprachen vollzogen wurde; diese Gegenden sind in der folgenden Abb. mit der hellsten Blaustufe gekennzeichnet.

Alte Romania - Romania submersa (Quelle der Grundkarte; Mod. in gelb: Th.K.)

Je nach Region haben sich mehr oder weniger deutliche Spuren des Lateinisch-Romanischen in den Sprachen, durch die es verdrängt wurde erhalten (vgl. exemplarisch Krefeld 2018o).

1.3. Die ‘neue’ Romania

Unter der  ‘neuen’ Romania, der eine spätere Sitzung gewidmet ist, versteht man die Gebiete außerhalb Europas, die nicht in der Antike, durch Latein sprechende Römer, sondern seit der frühen Neuzeit durch Sprecher romanischer, im wesentlichen portugiesischer, spanischer und französischer Varietäten romanisiert wurden.

Romanische Sprachen in der Welt (Quelle)

2. Die alte Romania auf den zweiten Blick: continua und discontinua

Aus der Karte in Abbildung 1 geht nun bereits eine andere, genuin sprachräumliche Unterscheidung innerhalb der alten Romania hervor: Während sich im Westen ein großes, zusammenhängendes Gebiet von der portugiesischen Atlantikküste bis zur italienisch-slowenischen Grenze präsentiert, sozusagen eine Romania continua im räumlichen Verständnis, ist das Romanische in Südosteuropa davon isoliert, also eine Romania discontinua, die wiederum aus einer größeren Fläche (im wesentlichen Rumänien und Moldawien) und etlichen sehr kleinen ‘Inselchen’ (in Albanien, Serbien, Mazedonien, Bulgarien, Griechenland und der Ukraine) besteht.

Romania continua und Romania discontinua

Weiterhin lässt sich das geschlossene Gebiet in West- und Südeuropa (Romania continua) bekanntermaßen ebenso wenig mit einer einzigen Sprache identifizieren, wie man aus den zahlreichen isolierten Gebieten im Südosten (Romania discontinua) auf eine Vielzahl einzelner Kleinsprachen schließen dürfte; in gewisser Hinsicht ist gerade das Gegenteil der Fall.

Wer jedoch versucht sich einen Überblick über die Gliederung und Klassifikation der romanischen Sprachfamilie zu verschaffen und mit den Verhältnissen weniger vertraut ist, wird zu seiner Überraschung feststellen, dass er sich auf eine schwierige Frage eingelassen hat: Während ganz klar ist, was unter ‘romanisch’ zu verstehen ist, gehen die Meinungen, welche Ausprägungen des Romanischen als selbständige ‘Sprache’ einzuordnen ist - und nicht etwa als Dialekt - recht weit auseinander, so dass sich in der Literatur sehr unterschiedlich lange Listen romanischer ‘Sprachen’ finden (vgl. Krefeld 2003a); um eine Festlegung in der einen oder anderen Richtung zu vermeiden, bietet sich der Fachausdruck ‘Idiom’ an:

Idiom
a
Idiom
b
Idiom
c
Idiom
d
Idiom
nn
status-
neutral
Hierarchisch gleichwertige Idiome  

Wenn man einem Idiom den Status eines Dialekts zuschreibt, ordnet man es automatisch einer Sprache unter; ‘Dialekte’ sind in ihren Anwendungsbereichen gesellschaftlich eingeschränkt, obwohl sie ebenso wie die ‘Sprachen’ vollständige sprachliche Systeme mit eigener Grammatik und eigenem Lexikon darstellen.

Sprache x status-
abhängig
Dialekt
a
Dialekt
b
Dialekt
c
Dialekt
d
Dialekt nn
Dialekte einer übergeordneten Sprache  

Die Unsicherheit bei der Katalogisierung der ‘Sprachen’ resultiert nicht zuletzt aus der Vermischung zweier grundverschiedener Kriterien der Sprachdefinition; eines bezieht sich auf eine hinreichende Verschiedenheit ([Un-]Ähnlichkeit) eines Idioms von den umgebenden Idiomen. Große Ähnlichkeit (oder geringer systemischer ‘Abstand’) führt Sprachwissenschaftler oft dazu unterschiedliche Idiome als Ausprägungen einer einzigen Sprache zu klassifizieren. Das andere Kriterium, der untergeordnete gesellschaftliche Status, führt dazu, dass auch deutlich unterschiedliche Idiome als Dialekte ein und derselben Sprache gelten; der Status eines Idioms ist historischem Wandel unterworfen, so dass Dialekte den Status von Sprachen erreichen können, bzw. Sprachen ihren Status verlieren und zu Dialekten werden können. All diese Prozesse werden im Laufe des Semesters anhand romanischer Beispiele  exemplifiziert.

2.1. Staatssprachen und staatlich autorisierte Sprachen

Eindeutig um Sprachen handelt es sich bei solchen Idiomen, die fest mit dem institutionellen Apparat von Staaten verknüpft sind und in den Bildungseinrichtungen, im Rechtswesen,  im Erziehungswesen, in der Verwaltung usw. des gesamten staatlichen Territoriums gebraucht werden - unabhängig davon, ob der Gebrauch explizit, sprachenrechtlich, vorgeschrieben oder nur konventionell etabliert ist. Einen vergleichbaren, territorialen Status1 haben Idiome in Regionen mit besonderer (Teil-)Autonomie; am bekanntesten ist zweifellos das Katalanische in der nach politischer Unabhängigkeit strebenden spanischen Provinz Katalonien. Das Kriterium der Staatlichkeit erfüllen:

(1) Portugiesisch,
(2) Spanisch,
(3) Katalanisch,
(4) Französisch,
(5) Italienisch,
(6) Rätoromanisch in der Schweiz (besser: Bündnerromanisch),
(7) Friaulisch,
(8) Rumänisch.

Diese Sprachen zeichnen sich durch relativ feste Standardvarietäten aus, die sich wie ein Dach über die anderen, nicht offiziellen Idiome des Territoriums legen; man spricht daher auch von Dach-, Standard-, Hoch- und Schriftsprachen (vgl. Vorlesungen 8, 9 und Krefeld 2019ac). Denn sie werden durch eine lange und nach vielen Disziplinen und Traditionen differenzierte Schriftlichkeit gestützt, die oft systematisch ausgebaut wurde. Deshalb hat sich in der Sprachwissenschaft dafür der von Heinz Kloss geprägte Terminus Ausbausprache durchgesetzt (vgl. Vorlesung 7).

Manche offiziell eingesetzte Sprachen haben jedoch nur eine schwache institutionelle Geltung auf regionaler Ebene  entwickelt; die entsprechenden Standardvarietäten treffen nur auf geringe Akzeptanz; in diese Gruppe gehören mindestens:

(9) Galizisch,
(10) Okzitanisch,
(11) Frankoprovenzalisch,
(12) Ladinisch,
(13) Korsisch,
(14) Sardisch.

Romanische Staatssprachen (gelb) und institutionell schwach abgesicherte romanische Sprachen (orange)

2.2. Die Zweistöckigkeit der romanischen Sprachräume

Der Ausdruck ‘Dachsprache’ impliziert bereits die Existenz von Idiomen, die überdacht werden; in der Tat ist die Romania continua  auf einer kleinräumigen, arealen Ebene ein einziges Kontinuum lokaler Dialekte, wie es die folgende Karte visualisiert; man kann daher von einer ausgeprägten Zweistöckigkeit dieses romanischen Sprachraums reden.

Dialekte der Alten Romania im 19. Jahrhundert (Quelle).

Allerdings zeigt die Karte ältere Verhältnisse2, die etwa dem Stand des ausgehenden 19. Jahrhunderts entsprechen; in manchen Regionen, vor allem in Frankreich, haben sich die territorialen Dachsprachen als echte Verdrängesprachen erwiesen und die Dialekte zum Verschwinden gebracht; in anderen Gegenden, speziell in großen Teilen Italiens, sind die Dialekte jedoch sehr stabil.

Nun werden diese zahlreichen Dialekte den jeweilige Staats- und Dachsprachen zugeordnet, da diese von den Dialektsprechern für bestimmte Zwecke benutzt werden und gelegentlich auch benutzt werden müssen. Die Dialekte Italiens, um ein Beispiel zu nennen, werden daher zu Recht als ‘italienische’  Dialekte, oder als Dialekte ‘des Italienischen’ bezeichnet. Man darf jedoch darüber nicht vergessen, dass es auf der arealen Ebene der Dialekte keine klaren Grenzen gibt, die mit den Grenzen des staatlichen Territoriums korrespondierten; die Farbgebung der Karte ist in dieser Hinsicht suggestiv und legt oft deutlichere Grenzen nahe, als in Wirklichkeit vorhanden (z.B. im Blick auf Portugiesisch und Galicisch). Die Tatsache, dass z.B. die Dialekte des Piemonts in Nordwestitalien unter das Dach des Italienischen gerieten und nicht des Französischen ist der Geschichte und ihren Zufälligkeiten geschuldet; eine sprachliche Notwendigkeit für diese Zuordnung gibt es gerade nicht, denn das Piemontesische ist dem Französischen in mancher Hinsicht ähnlicher als dem Italienischen. Wenn die dynastische Geschichte Savoyens (Link) anders verlaufen wäre und Piemont an Frankreich gefallen wäre, würden wir das Piemontesische heute wohl als ‘französischen’ Dialekt einstufen (vgl. die Situation des Italienischen in Krefeld 2019ae; Link). 

Für zahlreiche sprachhistorische und -typologische Fragestellungen bietet die überdachte Ebene der arealen Mundarten eine viel verlässlichere und empirisch breiter dokumentierte Grundlage als die standardisierten territorialen Dachsprachen, denn jeder Dialekt ist ein in sich vollständiges sprachliches System und in diesem nicht politischen oder soziologischen Sinne eine ‘Sprache’; jeder Dialektsprecher, der auch die zugehörige Dachsprache beherrscht, ist demzufolge als zweisprachig anzusehen, so wie jemand der eine Fremdsprache spricht oder der mit zwei Muttersprachen aufwächst. Die Standardvarietäten sind oft nicht repräsentativ für die Mehrheit der Dialekte, weil ihnen Merkmale fehlen, die in den Dialekten weit verbreitet sind, und weil sie andererseits Merkmale aufweisen, die den meisten Dialekten fehlen; außerdem sind die Standardsprachen auf dialektaler Grundlage entstanden, als die Dialekte, d.h. die lokalen Idiome, bereits seit Jahrhunderten gab. Das wichtigste Forschungsinstrument zur Dokumentation des romanischen Dialektkontinuums sind die Sprachatlanten (vgl. exemplarisch ALF, García Mouton u.a. 2016 und NavigAIS). 

Wenn die beiden Ebenen der territorialen Staatssprachen einerseits und der nicht durch staatliche Institutionen repräsentierten Arealsprachen (Dialekte) andererseits nicht klar getrennt werden, entstehen Unklarkeiten bei der Einteilung der Romania in Einzelsprachen. (In dieser Hinsicht ist diese Karte des Wikipedia-Artikels über Romanische Sprachen irreführend.)

2.3. Die Romania discontinua und das Rumänische

Die Romanen der südosteuropäischen Romania discontinua werden von der Forschung meistens unter dem Sprachnamen ‘Rumänisch’ zusammengefasst (vgl. zu diesem Abschnitt Krefeld 2003a) und als Aromunisch, Istro-, Megleno- und Dakorumänisch spezifiziert.

Die Romania discontinua und das Rumänische (modifizierter Ausschnitt dieser Quelle)

Das ist insofern berechtigt, als sich diese verstreuten romanischen Idiome und das Rumänische im zusammenhängenden Gebiet der Staaten Rumänien und Moldawien sehr stark ähneln. Gleichzeitig wird aber auch von ‘rumänischen Dialekten’ geredet, und diese Klassifikation ist im Hinblick auf den Status der genannten Idiome sehr problematisch: Der Dialektstatus ergibt sich ja erst aus der Überdachung durch ein und dieselbe Dach-, bzw. Standardsprache, und davon kann nun im Fall des Istrorumänischen, des Aromunischen und des Meglenorumänischen nicht die Rede sein, denn die rumänische Standardsprache spielt in diesen Gebieten in Kroatien, Albanien, Mazedonien, Bulgarien und Griechenland gar keine Rolle; sie überdacht nur die Territorien der beiden genannten Staaten Rumänien und Moldawien. Es ist also in diesem Fall - und in der alten Romania nur in diesem Fall - aus sprachwissenschaftlicher Sicht möglich, die verstreuten arealen Idiome und das territoriale Rumänische in Rumänien und Moldawien auf Grund der sehr auffälligen Ähnlichkeit zu einer Sprache zusammenzufassen; es handelt sich um den in der Romania sonst nicht gegebenen Typ einer Abstandsprache.

Die Sprecher des Istrorumänischen, des Aromunischen und des Meglenorumänischen leben also gewissermaßen unter dem Dach ganz anderer, unverwandter Territorialsprachen (Kroatisch, Albanisch, Bulgarisch, Serbisch und Griechisch). Da es sich traditionell um mobile Sprechergruppen handelte, die seit Jahrhunderten vor allem auf Herdenwirtschaft spezialisiert waren und weiträumige Transhumanz zwischen Sommer- und Winterweiden pflegten, beherrschten die Sprecher oft sogar mehrere der genannten Kontaktsprachen, wenn die Sommerweiden zum Beispiel in Albanien, die Winterweiden dagegen in Griechenland lagen (vgl. Kahl 2007).

2.4. Veränderung der ‘alten’ und ‘neuen’ Romania durch romanische Migration

Karten, wie die in den Abbildungen 2, 4 und 5, zeigen ein sehr statisches Bild der sprachlichen Räume und suggerieren - auf arealer und territorialer Ebene - die Vorstellungen homogener Sprachgemeinschaften; das ist natürlich stark idealisierend und auch irreführend. Vor allem Migrationsbewegungen sind eine ständige Quelle von Veränderungen; sie betreffen
(1) die alte Romania,
(2) die neue Romania,
(3) den Austausch zwischen neuer und alter Romania.

Grundsätzlich ist keine Sprechergemeinschaft3 davon ausgeschlossen, aber die Unterschiede sind erheblich. So verortet die Karte 4 (vgl. DEFAULT) das Italienische (gelb) ausschließlich in Italien und das (Dako-)Rumänische (rot) ausschließlich in Rumänien und Moldawien, obwohl diese Staaten durch eine massive Emigrationsgeschichte gekennzeichnet sind, die im Fall Italiens weit ins 19. Jahrhundert zurückreicht; daraus haben sich in vielen Teilen der Welt neue Sprechergruppen gebildet, die ihre Sprachen und Dialekte unter bestimmten Bedingungen über etliche Generationen beibehalten; man vergleiche zur Verbreitung der Italiener die Karte aus Bernini 2010:

Italienische Emigration (Quelle)

Im Süden Brasiliens (Rio Grande do Sul) ist ein dialektales Italienisch auf Grundlage von Veneto-Dialekten unter dem Namen Talian sogar zu einer regionalen Amtssprache neben dem Portugiesischen erhoben worden (vgl. Monachesi Gaio 2018).

Noch stärker wurde die rumänische Sprechergemeinschaft nach dem Zusammenbruch des Warschauer Paktes durch Emigration verändert (vgl. zur Verbreitung der Rumänen diesen Link). Der allergrößte Teil (80% im Jahre 2012) lebt unter dem Dach romanischer Sprachen nämlich in Spanien (Link) und Italien (Link), so dass ganz neue innerromanische Sprachkontaktszenarien und damit verbundene mehrsprachige Sprechergemeinschaften entstanden, aus denen wiederum besondere sprachliche Varietäten hervorgehen (können). Die Tatsache, dass gerade diese beiden Staaten zum bevorzugten Ziel der rumänischen Emigranten wurden, hängt zweifellos mit der Ähnlichkeit der Sprachen zusammen, denn mit der rumänischen Muttersprache ist automatisch eine passive Grundkenntnis der beiden anderen romanischen Sprachen gegeben.

Rumänische Emigration in Europa 2017 (Quelle)

Massenhafte Migration prägt unsere Gegenwart, aber es handelt sich keineswegs um ein neueres oder gar modernes Phänomen. So wäre es nicht richtig zu glauben, die arealen Dialekte, die auf der Karte in Abbildung 5 (vgl. DEFAULT) verzeichnet sind, seien alle gleich alt und ausschließlich aus dem lokalen/regionalen Lateinischen entstanden. Allein Italien bietet lokale und regionale Evidenzen für sekundäre, migrationsbedingte Veränderungen. Ein besonders augenfälliges Beispiel für die prägende Kraft innerromanischer Migration ist Sardinien, denn die mit der antiken Romanisierung entstandene Sprachlandschaft ist durch mittelalterliche Einbindung der Insel in die Territorien der Seerepubliken Pisa und Genua sowie später der Königreiche Aragón und Spanien und die damit verbundene demographische Dynamik stark verändert worden: Gleich mehrere ursprünglich nicht sardische Idiome sind nach Sardinien gekommen; sie haben sich einerseits in Gestalten von Sprachinseln oder kleinen Arealen erhalten und darüber hinaus auch zahlreiche sprachliche Elemente an das Sardische selbst vermittelt  (vgl. Krefeld 2019b); . 

Sardisch (), Genuesisch (), Katalanisch () und Korsisch () auf Sardinien

Im (post)migratorischen Kontext ändern sich Sprachen im Kontakt mit den Sprachen ihrer neuen Umgebung, seien sie nun romanisch oder auch nicht. Aber gleichzeitig konservieren sie auch Merkmale der Emigrationszeit, wenn sie von den sprachlichen Neuerungen in ihren Herkunftsgebieten nicht mehr erreicht werden. Von großem Interesse in beiderlei Hinsicht ist das Spanische und Portugiesische der Juden, die 1492 aus Spanien und 1497 aus Portugal vertrieben wurden (Link). Diese sogenannten Sepharden (oder Spaniolen) siedelten sich in zahlreichen Städten in Nord- und Südosteuropas aber auch in Nordafrika und (über den niederländischen Umweg) auch in Südamerika an (vgl. Bossong 2008b und Sephiha 1997); einen Eindruck von der sehr großräumigen Verbreitung gibt die folgende Karte:

Sephardische Migration (Quelle)

In jüngster Zeit ist eine starke Migrationsbewegung aus der neuen Romania zurück in die alte Romania zu verzeichnen; sie betrifft zahlreiche Sprecher des brasilianischen und afrikanischen Portugiesischen, des südamerikanischen Spanischen und des afrikanischen und karibischen Französischen, die nach  Portugal (Link), Spanien (Link) und Frankreich ziehen. Da sich die Varietäten der romanischen Sprachen, die in der neuen Romania gesprochen werden,  teils deutlich von den europäischen Varietäten unterscheiden - besonders eklatant ist der Gegensatz von brasilianischem und europäischem Portugiesisch - eröffnen sich im Kontakt zahlreiche Forschungsperspektiven. Allerdings darf nicht übersehen werden, dass sich die Situation von Sprechern in Migrationskontexten seit Durchsetzung der Neuen Medien grundlegend geändert hat; sie rücken zwar nach wie vor unter ein anderes, in der Regel viel weiter entferntes sprachliches Dach, aber sie haben dank Diensten wie Skype oder FaceTime gleichzeitig die Möglichkeit einen medialen ‘Schirm’ aufzuspannen und in kommunikativen Netzwerken aktiv zu bleiben, die sich der Herkunftssprache(n)/Dialekte bedienen und  die eine Kommunikation erlauben, die einer Face-to-face-Situation sehr nahe kommt (vgl. Krefeld 2019ac).

Mit dem gesellschaftlichen Status von Idiomen und seinem Wandel befasst sich die im Kern auf Heinz Kloss zurückgehende Sprachsoziologie; vgl. auch Krefeld 2019ac.
Nicht korrekt ist die Darstellung Istriens; denn abgesehen vom Istriotischen fehlt das dort gesprochene Venezianische; auch die Farbgebung des Romanischen in Dalmatien müsste neben dem eingetragenen Blau (für Dalmatisch) eine Farbe zeigen, die dem Venezianischen entspricht.
Die Gender werden in der Notation mit * nur dann unterschieden (Sprecher*innen), wenn der Unterschied als solcher fokussiert wird; ansonsten steht die maskuline Form generisch für alle Gender.

Bibliographie

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