0.1. Vier ‘Ausbaustützen’
Dieses Kapitel stützt sich stark auf die für die Untersuchung der frühen venezianischen Schriftlichkeit wichtige Untersuchung von Rembert Eufe (2006): Sta lengua ha un privilegio tanto grande. Status und Gebrauch des Venezianischen in der Republik Venedig, insbesondere auf das 5. Kap. (89-194). Diese Arbeit leistet auch einen grundlegenden Beitrag zur sprachhistorischen Applikation des Ausbaukonzepts von Heinz Kloss. Die problematische Typisierung der unterschiedlichen Bereiche von Schriftlichkeit wird bei Eufe in ein Modell überführt, das vier unterschiedliche 'Ausbaustützen' unterscheidet: die ‘Religionsstütze’, die ‘Wissensstütze’, die ‘Literaturstütze’ und die ‘Organisationsstütze’. Ein wichtiges Ergebnis dieser Arbeit besteht in der Erkenntnis, dass die zunehmende Verschriftlichung der Lebenswelt keineswegs ausschließlich in einem und zwar dem vernakularen Idiom erfolgt; in der Überschrift dieser Vorlesung ist daher explizit vom multiplen Ausbau in der Republik Venedig, und nicht vom Ausbau des Venezianischen. Man sollte sich von die Vorstellung eines linearen und sozusagen 'monodiomatischen' (auf ein einziges Idiom bezogenen) Ausbaus im italienischen Kontext überhaupt verabschieden. Vor allem der Texttyp und die Mediengeschichte, d.h. der Buchdruck, nehmen offensichtlich einen starken Einfluss auf die Selektion des Idioms; Venedig avanciert seit Ende des 15. Jahrhunderts sehr schnell zum Zentrum des frühen italienischen Buchdrucks (vgl. Marcon 1994 und neuerdings Ambrosch-Baroua 2015).
0.1.0.1. Ausbaustütze Organisation
Die Institutionen der Republik Venedig bilden dank ihren territorialen (staatlichen) Kongruenz und Verflechtung einen “textkulturstiftender Bezugsrahmen” (Meier/Möhn 2000, 1471 zit- Eufe 2006, 146). Auch ‘institutsintern’, gibt es Ordnungen, Statuten, Gesetze und Texte,
“die Arbeitsabläufe und Zuständigkeiten festlegen, Geschäftsvorgänge dokumentieren […] und Institutionsgeschichte zum eigenen Selbstverständnis aufzeichnen” (Meier/Möhn 2000, 1471 zit. Eufe 2006, 147).
Grundlegend ist aber vor allem die systematische Archivierung der Schriftstücke (Eufe 2006, 155, Anm. 260) in den so genannten libri pactorum (ab dem Ende 12 Jh.) und später in den libri commemoriales (im 13. Jh.). Hier einige Station der zunehmenden Verschriftlichung:
- 1266 beschließt der Maggior Consiglio die Abschrift aller Beschlüsse und die Aufbewahrung einer Kopie beim Rat der Vierzig;
- 1271 und 1277 wird der Aktenverkehrs zwischen den Avogadori di Comun durch Registrierung aller Schriftstücke, Rückgabe der Orignalurteile an die Richter und die Aufbewahrung einer Kopie geregelt;
- 1343 und 1354 werden umfangreiche Urkundensammlungen des Dogen Andrea Dandolo angelegt (liber albus, liber blancus);
- systematische Archivierung der Schriftstücke (Eufe 2006, 155, Anm. 260).
Besonders wichtig für das Funktionieren des Staates sind jedoch die institutsexternen Statuti und Gesetze. Bereits im Jahre 1204, d.h. im Jahr der Eroberung von Konstantinopel, manifestiert der Doge Raniero Dandolo durch die Nove constitutiones sive leges den Anspruch auf eigenständige, von Byzanz unabhängige Gesetzgebung; das war die Grundlage für eine alte und kontinuierliche Tradition einer zunächst noch lateinisch abgefassten aber bald ins volgare übertragenen Legislation, die sich sehr früh in den umfassenden und grundlegenden Kodifikationen des Dogen Jacopo Tiepolo niederschlägt:
- der Liber promissionis maleficii (1232) für das Strafrecht;
- der Liber statutorum et legum Venetorum (1242) für das Zivilrecht;
- die Statuta iudicum petitionum (1244) für das Prozessverfahrensrecht.
Es handelt sich hier zwar um ein europäisches Phänomen, denn Kompilationen wurde im selben Jahrhundert auch von Friedrich II, von Papst Gregor IX, von Ludwig dem Heiligen und durch den so genannten Sachsenspiegel für Norddeutschland geschaffen. Aber in diesem Zusammenhang ist Jacopo Tiepolo “«zu den großen Gesetzgebern der europäischen Geschichte» (Wolf 1966: 260) zu zählen” (Eufe 2006, 161).
Bezeichnenderweise gibt es auch spezifisch venezianische Bezeichnung für das GESETZ:
Die ersten Übersetzungen ins volgare datieren in die erste Hälfte des 14. Jahrhunderts; aber es findet sich gleichzeitig eine merkwürdige Vielfalt von Versionen:
“Aus dem Trecento sind insgesamt fünf verschiedene volgare-Fassungen der Statuten in sieben Textzeugen erhalten – eine beträchtliche Zahl angesichts der fünf lateinischen aus der gleichen Zeit –, aus dem 15. Jahrhundert zwölf Handschriften, darunter fünf jeweils verschiedene in volgare.” (Eufe 2006, 161)
Diese Textüberlieferung lässt darauf schließen, dass es keine streng offizielle Fassung gab. Gerade dieser Umstand ist jedoch für das Verständnis des kommunikativen Raums aufschlussreich: Allem Anschein nach war die öffentliche Schriftlichkeit so fest etabliert, dass sie durch die politische Herrschaft nicht mehr nach Belieben reguliert und kontrolliert werden konnte.
“Sebbene alcuni dei manoscritti due-trecentesche contenenti il testo degli Statuti presentino caratteristiche tali da far sospettare che il loro allestimento sia avvenuto in ambiente se non ufficiale, certo molto vicini al Palazzo, è un fatto che, come avvertiva già Cessi, non è possibile «attribuire nemmeno agli esemplari più antichi un carattere ufficiale» [Cessi 1938]. Lo Stato veneziano, verosimilmente restio a promuovere un’ampia circolazione dei testi legislativi e statuari, non curò, a quanto pare, la compilazione di codici di riferimento, esposti al pubblico in luoghi deputati, centrali nella vita politica del Comune, come pure avveniva in altre città italiane.” (Tomasin 2001, 49)
Immerhin scheint aber der Apparat darauf reagiert zuhaben:
“Nel 1309 fu tuttavia aperto uno speciale ufficio in senso all’Avogaria di Comun, presso il quale era possibile consultare le delibere del Maggior Consiglio.” (Tomasin 2001, 49, Anm. 87)
Das starke Interesse der gesamten venezianischen Gesellschaft an verfügbaren gesetzlichen Referenztexten zeigt sich sofort nach der medialen Revolution durch den Buchdruck, der sich in Venedig 1469 etabliert. Die schlagartige Vervielfältigung der Gesetzestexte wurden durch den Staat zwar nicht in Auftrag gegeben, aber offensichtlich auch nicht verhindert:
“Immerhin erscheinen die venezianischen Statuten in volgare besonders früh im Druck, zuerst 1477 und erneut 1492 (beide zeigen ein deutliches Venezianisch), aber ebenfalls als Ergebnis privater Initiativen […]”. (Eufe 2006, 162 f.; vgl. Tomasin 2001, 109-128)
Ab dem 16. Jahrhundert kann man eine zunehmend sprachliche Italianisierung feststellen.
0.1.0.2. Abkommen und Verträge der Republik mit Herrschern anderer Staaten
Eine im Fall von Venedig besonders gut dokumentierte Textsorte bilden Abkommen und Verträge mit Herrschern anderer Staaten; eine entsprechende Sammlung wurde bereits 1856/57 von Tafel/Thomas herausgegeben; die meisten Text sind lateinisch; es sind aber auch zahlreiche auf volgare und nicht zuletzt auf altfranzösisch darunter; darunter sind u.a.:
- Verträge mit dem Sultan von Aleppo; der älteste von 1207/1208 ist erhalten in einem Manuskript von 1291/1292 erhalten; es handelt sich bei dieser Übersetzung eines arabischen Originals um das älteste Doument des Venezianischen überhaupt.
“La qualifica di ‘più antico documento in veneziano’ usata dagli ultimi editori [= M. Pozza; Th.K.] del testo è sostanzialmente giustificata. Così come ci è giunto, il patto col sultano di Aleppo è senza dubbio un testo veneziano. Ma la sua lingua, più che documentare un fantomatico volgare della diplomazia, fornisce un’interessante attestazione del processo di internazionalizzazione cui il veneziano era sottoposto in Oriente: un processo caratterizzato in primo luogo dalla generosa ricezione di elementi linguistici francesi.” (Tomasin 2001, 13)
“[…] venature curiose di francese che non sembrano sorprendenti nel tempo e nel luogo del documento, per es. tener nel significato feudale di ‘possesso’, ‘impero’, e plasir (che appartiene a un tipo che avrà fortuna nella lingua franca, appunto sabir)” (Folena 1970 zit. In Tomasin 2001, 13, Anm. 6)
Hinzu kommen:
- das Privileg eines armenischen Königs (Tomasin 2001, 17) und andere Abkommen mit armenischen Partnern;
- acht altfranzösische Dokumente, davon vier von 1307-1321 für Abkommen mit dem armenischen König;
- ein Vertrag mit dem Sultan von Ägypten aus dem Jahre 1244, der im folgenden wiedergegeben wird:
Wie andere staatliche Verträge ist auch dieser Text sprachlich nicht eindeutig zuzuordnen, da er typisch venezianische Elemente (z.B. cauo 'capo') und nicht venezianische (z.B. die Doppelkonsonaten) verbindet. Charakteristisch für diese Texte des 13. und 14. Jahrhunderts, vor allem die Serie von Dokumenten, die auch Vereinbarungen mit dem Sultan von Aleppo enthält, ist eine “sostanziale assenza di uno standard linguistico” (Tomasin 2001, 15).
0.1.0.3. Briefe
Die weitaus größte Menge der erhaltenen frühen Dokumente besteht jedoch aus Briefen von oder an staatliche Funktionsträger; sie zeigen ganz klar, in welchem Maße die Kommunikation mit den Institutionen generelle Verschriftlichung voraussetzt; Briefe in volgare sind seit dem 14. Jahrhundert erhalten.
“Il grosso delle testimonianze volgari tramandate dai primi volumi dei Commemoriali e da analoghi registri coevi consiste in effetti in materiale di corrispondenza. Ai primi del Trecento, l’uso di scrivere in veneziano le lettere rivolte a istituzioni centrali dello Stato è una prassi normale in tutte le emanazioni periferiche del potere politico ed economico del Comune. […] Spesso a scrivere sono funzionari locali, ma non mancano segnalazioni inoltrate da privati cittadini, e in simili circostanze l’uso del volgare è di rigore. Interessanti sono i casi, sporadicamente documentati, in cui i funzionari dello Stato, trovandosi all’estero, adottano nei loro dispacci il latino o il volgare a seconda dei destinatari: la lingua antica viene normalmente impiegata nelle comunicazioni al doge, mentre il veneziano compare di solito in missive rivolte a uffici minori, a funzionari tecnici che del volgare facevano uso nella loro ordinaria amministrazione.” (Tomasin 2001, 24)
Die funktionale Bedeutung der Briefe zeigt sich in der gesetzlichen Regelung ihrer Abfassung, und Aufbewahrung; so wurde mit einem Gesetz von 1402 ein spezielles Sekretariat, die sog. secreta/segreta eingerichtet (vgl. Tomasin 2001, 305):
Vom Basiswort wurden dann die Bezeichnung des Schreibers (segretario) und der Schreibstube (segretària) abgeleitet, wie aus Boerio hervorgeht:
Ausgehend von der venezianischen Einrichtung hat sich diese Wortfamilie dann in viele europäische Sprachen verbreitet, so auch Sekretär usw. Es ist also unnötig, hier auf (mittel)lateinische Etyma zurückzugehen.
0.1.0.4. Historiographie
Schließlich darf auch die Historiographie, jedenfalls sofern durch einen staatlichen Funktionär ausgeführt wurde, zur Organisationsstütze rechen; in dieser Funktion wurde (seit 1489) wurde Latein verwandt; es hat sich offenkundig um ein sehr prestigereiches Amt gehandelt, das durch angesehene Persönlichkeiten bekleidet wurde (u.a. durch Pietro Bembo).
0.2. Ausbaustütze Religion
Diese Domäne ist sprachlich heterogen; seit der 1. Hälfte des 13. Jahrhunderts finden sich teilweise Bibelübersetzungen (Psalmen), aber auch andere Texttypen wie Heiligenviten. Bereits 1471 werden zwei Bibeln in volgare gedruckt, davon eine vom Kamaldulenser Niccolò Malerbi (gedruckt bei Vendelino da Spira; Ausgabe von 1490 bei Giunta); die Sprache dieser ersten Bibelübersetzung ins Italienische ist ein
“toscano generico […], eppur segnato di venetismi diffusi senza mai essere vistosi” (Cortelazzo/Paccagnella zit. in Eufe 2006, 98).
Erst danach, 1475, wurde ebenfalls in Venedig die erste Bibel in lateinischer Sprache gedruckt; zwischen 1471-1569 sind in Italien 44 vollständige Bibeln und 32 Neue Testamente erschienen. Dieser Boom wurde durch das Tridentinisches Konzil (1545-1563) un die damit eingeleitete Gegenreformation abrupt unterbrochen: 1570-1770 erschienen nur noch 18 Ausgaben. Auch die Malerbi-Bibel wurde in Venedig zwischen 1566 und 1577 immer wieder neu gedruckt gedruckt, dann bis Mitte des 18 Jahrhunderts nicht mehr. In dieser wichtigen und über das Territorium der Republik Venedig weit hinausreichenden Texttradition konnte sich das Venezianische von Beginn an nicht wirklich etablieren:
“Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass der Druck von Bibeln in Venedig bereits mit einer sprachlich nur wenig vom Idiom der Stadt geprägten Ausgabe einsetzte.” (Eufe 2006, 98)
Dennoch finden sich neben der Bibel im 14./15. Jahrhundert durchaus venezianische Beispiele “für die – vor allem quantitativ – wichtigsten religiösen Texttraditionen”; nach 1500 lässt sich eine massive Ausweitung des Toskanisch-Italienischen verzeichnen, wenn auch venezianische religiöse Schriften nicht ganz fehlen (so ist noch im 18. Jh. eine Psalmen-Paraphrase zu nennen). Aber auch in Predigten ist schon im 16. Jahrhundert eine Person bekannt, die sich des Toskanischen bedient, nämlich Cornelio Musso (1511-1574), ein Freund Bembos (vgl. Eufe 2006, 100). Darf man aus der Druckfassung darauf schließen, dass auch in der religiösen Mündlichkeit in Venedig bereits das Toskanische üblich war?
Eine sehr interessante und sprachgeschichtlich zu wenig beachtete - öffentliche - Form der Schriftlichkeit sind die Inschriften in Kirchen und in deren Nähe; davon sind
“außergewöhnlich alte nicht lateinische Exemplare […] in Venedig häufiger anzutreffen als anderswo“ (Eufe 2006, 101).
Sie wurden in 6 Bänden von Emanuele Antonio Cicogna (1824-1853) gesammelt; auch in diesem Fall darf man von multiplem Ausbau sprechen, denn sie sind zwar überwiegend, aber eben nicht ausschließlich lateinisch:
“Eine Duchsicht […] vermittelt den Anschein, dass die Inschriften in volgare bis 1500 deutlich venezianisch sind und sich dann immer stärker toskanisch-italienisch präsentieren”. (Eufe 2006, 102)
0.3. Ausbaustütze 'Literatur'
Einen Überblick geben Haller (2002, 133-162) und Stussi (1993 a). Im Vergleich zur Toscana und zu den anderen Zentren Veneziens ist das späte Erscheinen von Literatur auffällig; so sind keine Autoren bekannt, die sich etwa mit Lucchetto in Genua (ab 1156) vergleichen ließen. Bei Einschätzung dieser Bsonderheit sind u.a. wohl drei Faktoren zu berücksichtigen:
- Bis zur Mitte des 15. Jahrhunderts war die Notariatsausbildung eine Domäne der Kirche, ganz im Unterschied zu Sizilien, Bologna oder der Toscana); die nicht klerikalen Notare sind außerhalb von Venedig unter den frühen Autoren vor allem im Bereich der Lyrik stark repräsentiert (Stussi 1993 a, 65); exemplarisch ist der als Stefano Protonotaro bekannte Autor der scuola siciliana.
- In Venedig wurde keine Universität gegründet; vielmehr blieb die nächstgelegene und für die Republik wichtige Universität die jenige von Padova; im Jahre 1445 spricht sich der Senat ausdrücklich gegen die Umwandlung der Scuola di Rialto in eine Universität aus (vgl. Eufe 2006, 143).
- Es gab kein Mäzenatentum wie an den Höfen der Terraferma in Treviso, Padova oder Verona, “die exilierte toskanische und provenzalische Dichter anzogen und förderten” (Eufe 2006, 103). Die Ausgaben des Dogen von Venedig waren streng kontrolliert und konnten für dergleichen Zwecke nicht eingesetzt werden (vgl. Stussi 1993 a, 65). Literatur war, mit anderen Worten, offenkundig kein Instrument der stadtstaatlichen Identitätsbildung.
Dennoch gibt es einzelne Texte und zum Teil außerordentlich bedeutende Autoren, die sich des Venezianischen bedienten; zu nennen sind Leonardo Giustinian (1388-1466), Andrea Calmo (1510-1577), Maffio Venier (1550-1586) sowie natürlich und vor allem Carlo Goldoni (1707-1793), über den auch aus linguistischer Sicht viel zu sagen wäre.
Andere Autoren schreiben bezeichnenderweise auch in Toskanisch-Italienisch und nicht zuletzt werden mehrsprachige Texte verfasst, die sich vor allem im Theater etablieren konnten. Am bekanntesten ist die anonym Komödies La Veniexiana (von 1535/37), mit jeweils einer Person, die toskanisch und bergamaskisch spricht. Aber die enge Verbindung zur Toscana ist für die Geschichte der Literatur in der Republik Venedig von großer Bedeutung. Stussi spricht von einem
“privilegiato rapporto tra antica letteratura toscana e regione veneta” (Stussi 1993, 71).
Bemerkenswert ist die schon seit Anfang des 14. Jahrhunderts einsetzende Rezeption von Dante und wenig später von Petrarca durch
“poeti toscaneggianti spesso adepti d’un petrarchismo approssimativo” (Stussi 1993, 71 zit. in Eufe 2006, 106)
Der erste Druck des Canzoniere von Petrarca erschien 1470 in Venedig; von Bembo edierten und bei Aldo Manuzio erschienenen Dante- und Petrarca-Ausgaben vor allem der Druck von Aldo Manuzio (1501) bildeten dann die Voraussetzung für für Francesco Fortunios Regole grammaticali della volgar lingua (1517) sowie schließlich für die Standardisierung der italienischen Schriftsprache durch Bembos Prose della volgar lingua (1525).
0.4. Ausbaustütze ‘Wissen’
Um diesen Bereich einzuschätzen, ist es sinnvoll, ihn vor dem Hintergrund der überlieferten Einteilung der Wissensbereiche nach den septem artes liberales zu sehen. Diese sieben 'freien' Künste bilden das Fundament der Allgemeinbildung und Lehre in den klassischen Fakultäten der Universitäten. Unterschieden werden das
- trivium: Grammatik, Rhetorik, Dialektik;
und das
- quadrivium: Arithmetik, Geometrie, Musik, Astronomie
Im Trivium fehlt das Venezianische komplett (vgl. Eufe 2006 137; 268) und im Quadrivium ist es auch nur schwach entwickelt. Im Gegensatz zu den ‘freien’ Künsten standen die artes mechanicae (Handwerke und Heilkunst) und hier liegt eindeutig der Ausbauschwerpunkt des Venezianischen. Wir finden bereits aus dem 14. Jh ein Kochbuch, aus dem 15. Jh. ein Färbereihandbuch und ein Bestiarium (1468).
Von ganz besonderem Interesse sind andere, uns heute eher fremde, aber ehemals verbreitete Diskurstraditionen, die in engem Zusammenhang mit der marittimen Ausrichtung und ökonomischen Fundierung der Republik im Handel zu sehen sind. In Anknüpfung an die antiken itineraria sind zunächst die portolani zu nennen,
“eine vom 13. bis 18. Jahrhundert kaum veränderte durchgehende Texttradition” (Eufe 2066, 127),
mit Routenbeschreibungen, Informationen über den Meeresgrund, die Häfen, vorherrschende Windrichtungen und andere nützlich Hinweise für Seeeleute; auch Seekarten gehörten vor allem ab dem 16. Jahrhundert dazu. Die älteste bekannte Karte (carte pisane) stammt aber bereits aus der 2. Hälfte des 13. Jahrhunderts.
Zur Tradition der Portolane gehört auch die ca. 1540 kompilierte Arte veneziana del navigare.
Die spezifisch kaufmännische Schriftlichkeit wird oft unter der Bezeichnung Ars mercatoria zusammengefasst (vgl. Stussi 1993, 1982); hier ist es notwendig, etwas weiter auszuholen. Die zugehörigen Texte erweisen sich durchweg als wenig anspruchsvoll im Hinblick auf die klassische Rhetorik, worauf schon zwei zeitgenössische Quellen hinweisen. Boncompagno da Signa (ca. 1170-1240), ein Kenner der ars dictaminis, d.h. der Rhetorik sagt:
“mercatores in suis epistolis verborum ornatum non requirunt, quia fere omnes et singuli per idiomata propria seu vulgaria vel corruptum latinum ad invicem sibi scribunt et rescribunt” (zit. in Stussi 1982, 70)
'die Kaufleute verlangen in ihren Briefen keine sprachliche Ausschmückung, weil fast alle und einzeln (?) ganz unbekümmert in ihren eigenen volkstümlichen Idiomen oder in schlechtem Latein schreiben und zurückschreiben' (Übers. Th.K.)
In der anonymen Vita di Cola di Rienzo (14. Jh.) heißt es:
“Hora Filippo de Valois, Re de Francia, lettera manna per uno arcieri. La lettera era scritta in vorgare, non era pomposa, ma come lettera de mercatanti” (zit. in Stussi 1982, 70; Link Th.K.).
Abgesehen von ihrer rhetorischen Schlichtheit war die Korrespondenz des Kaufmanns
“esposta al contagio linguistico da parte del corrispondente” (Stussi 1982, 71).
In der genannten Quelle von Stussi werden zahlreiche Beispiele für Briefe von palermitanischen und apulischen Schreibern des Trecento erwähnt, die je nach Adressat toskanische und venezianische Merkmale zeigen; Kaufleute akkommodieren also ihre Sprache aus pragmatisch naheliegenden Gründen an diejenige ihrer Geschäfts- und Korrespondenzpartner.
In die Kaufmannsschriftlichkeit fällt die in mancher Hinsicht interessante Diskurstradition der sogenannten tarifa, die ähnlich wie die Portolane aber in anderer Ausrichtung ganz unterschiedliche Informationen vermittelt: über Distanzen, politische Verhältnisse, örtliche Nahrungsmittel, Produkte, Märkte, Währungen und Preise. Auch die berühmte, wohl zunächst in altfranzösischer Sprache von Rustichello da Pisa verfasste Reisebeschreibung des Venezianers Marco Polo (Milione) muss zu dieser Tradition gerechnet werden.
Etwas ausführlich soll die Diskurstradition jedoch ausgehend von einem weniger bekannter, aber bedeutenden venezianischen Text aus dem 14./15. Jahrhundert vorgestellt werden, dem Zibaldone da Canal.
“La lingua, caratterizzata da abbondanti dittonghi, rimanda alla seconda metà del secolo.” (Stussi 1967, XIII)
Zu Grunde liegt vielleicht ein ca. 50 Jahre älteres Original.
“Risulta evidente la complessiva venezianità linguistica del manoscritto, con punte massime nella pratica mercantile, minime in quei testi, come i due serventesi, che sono più o meno simili ai tanti altri coevi cosidettí tosco-veneti.” (Stussi 1967, XIII)
Gelegentlich findet sich auch (romanisch interferiertes) Latein, so in religiösem oder abergläubischem Kontext:
“Si vis quod innimichum tuum tibi noçere non poterit scribe iste figure / in carta virginea et portat techum e non ochuret tibi // aliquo mallo Deum adiuvantem. E.x.c.t.g.d.r.q.p.s.a.” (Zibaldone da Canal 52v)
'Wenn du willst, dass dein Feind dir nicht schaden können wird, schreibe diese Figur auf unbeschriebenes Papier und trage es bei dir und dir geschieht nicht Böses, wenn Gott hilft.' (Übers. Th.K.)
Die folgende Übersicht zeigt den Inhalt dieses Buchs:
Die folgenden Textasusschnitte geben Beispiele für die unterschiedlichen inhaltlichen Bereiche des Buchs:
Der erste Teil enthält zahlreich mathematische Übungsaufgaben; das Buch ist hier stark vom Liber Abbaci von Leonardo Fibonacci beeinflusst:
“Si potrebbe dire in linea generale che i problemi dello Zibaldone siano stati scelti fra quelli meno difficili di Leonardo” (Ore 1967, LXXIII)
Die Aufgaben sind jedoch stark an die venezianische Alltagswelt, d.h. an Handel und Seefahrt angepasst; alle entsprechen demselben Texttyp:
"Fa’-me questa raxion: ello sì è 3 mollini che l’un d’essi maxina / ogno dí stera 18 e l’olltro maxina stera 15 e l’olltro stera / 12, ciò sì è stera 13 de formento. E digo: «Partime sta 13 stera in / questin3 mollini que sto formento sia maxenado tuto a una ora». //
Questa sì è la soa riegolla como se die far questa raxion / e se tu la vos saver summa çio qu’elli maxena tuti 3 allo dì / che monta 45. […] E cossì fasse tute le someiante raxion./” (Zibaldone da Canal 14v)
Im Faksimile sieht dieselbe Aufgabe mitsamt einer zugehörigen Zeichnung so aus:
Der Zibaldone wurde stark rezipiert und in vielen späteren Texte finden wörtliche Übereinstimmungen (vgl. Stussi 1967, XXI ff.), wie zum Beispiel bei Luca Pacioli oder im z.B. Libro di mercatantie et usanze de’ paesi von Giorgio di Lorenzo Chiarini.
0.5. Die Vier Ausbaustützen im Überblick
Rembert Eufe hat den Sprachausbau in der Republik Venedig in einem sehr informationsreichen Schema zusammengefasst:
Diese synthetische Visualisierung kann hier nicht im Detail kommentiert werden. Es ist jedoch festzuhalten, dass einerseits die Zentrierung der venezianischsprachigen Schriftlichkeit eindeutig und sehr dauerhaft im Bereich der Organisation und des Theaters liegt (schwarze Sterne in der Spalte 'i.-übergr.'), und dass andererseits die toskanische Schriftlichkeit in allen Bereich (außer dem Theater, Spalte 'Szen.D') ab dem 16. Jahrhundert massiv zunimmt.