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Italienisch in Argentinien




1. Einleitung

Ein Argentinier ist ein Italiener, der Spanisch spricht, Engländer sein will und sich wie ein Franzose benimmt"

So sprach Jorge Luis Borges von den Argentiniern und wird von der Süddeutschen Zeitung (2010) in dem Artikel "Argentinien-Land der verkleideten Italiener" mit dem Hinweis zitiert, dass auch die Bewohner Argentiniens selbst sich so bezeichnen. Und tatsächlich ist dieses Zitat keinenfalls einem Zufall geschuldet, sondern mit der kulturellen, sozialen und sprachlichen Situation in Argentinien zu erklären, die in der historischen Entwicklung des Landes wurzelt. So hatte sich Argentinien bereits gegen Ende der Kolonialzeit für Einwanderer geöffnet und verzeichnete in den Jahren zwischen 1857 und 1941 bereits 6 Millionen Immigranten, von denen zwar die Hälfte nach ein paar Jahren wieder in ihre Herkunftsländer zurückkehrten, der Ausländeranteil 60 Jahre lang jedoch immerhin 60% der Einwohner von Buenos Aires ausmachte. Im Jahre 1930 stießenn nochmals 6.500.000 Einwanderer auf die bis dato 6.500.000 lebenden Menschen in Argentinien (vgl. Engels 2012: 19f), deren größte Gruppe die Italiener ausmachten, die ab 1885 in großen Zahlen nach Argentinien kamen. Grund für die Emigration der Italiener waren die Verschlechterung der ökonomischen Bedingungen in Italien auf Grund der landwirtschaftlichen Krise Ende des 19. Jahrhunderts, die daraus resultierende schlechte soziale Situation, eine Überbevölkerung sowie ein Mangel an Arbeitsplätzen. Diese schlechten Lebensbedingungen in Italien stießen auf die großen Versprechungen seitens der argentinischen Regierung, die unter dem Leitspruch "gobernar es poblar" ab Mitte der 1850er Jahre eine Ansiedlungspolitik betrieben durch welche sie sich eine Modernisierung sowie einen kulturellen und wirtschaftlichen Fortschritt erhofften. Somit versprachen sie den Immigranten sichere Arbeitsplätze in Argentinien, Landzuteilung und die Bezahlung der Überfahrt. Diese Aspekte sowie die hohe Ähnlichkeit zwischen dem Italienischen und dem Spanischen erwiesen sich als attraktive Faktoren für die Italiener nach Argentinien zu emigrieren (vgl. Wunderlich 2014: 19f). Und auch heute noch haben mehr als die Hälfte der 30 Millionen Einwohner italienische Wurzeln (vgl. Giacomazzi 2002: 571). Die italienische Masseneinwanderung beeinflusste nun die Kultur, die Gesellschaft und die Sprache am Río de la Plata. Durch das Aufeinandertreffen des Spanischen mit dem Italienischen entstand ein Sprachkontakt, der sich einerseits durch spanische Einflüsse auf das Italienische der italiensichen Immigranten und andererseits durch italienische Einflüsse auf das Spanische der Argentinier äußerte. Dieser Sprachkontakt evozierte einige interessante sprachliche Entwicklungen, aus denen das Cocoliche (Kapitel 2) und das Lunfardo (Kapitel 3) resultierten (vgl. Veith 2008: 34).

Im Folgenden werden zunächst diese beiden historischen Sprachkontaktphänomene erörtert, wobei die Etymologie der beiden Bezeichnungen erklärt wird, die Entstehung der beiden Varietäten sowie deren sprachliche Charakteristika erörtert werden. Ferner soll für beide Varietäten eine varietätenlinguistische Einordnung erfolgen, bevor auf die aktuelle Sprachsituation des Lunfardo und das literarische Cocoliche eingegangen wird. In einem 4. Kapitel wird schließlich auf die aktuelle Sprachsituation in Argentinien eingegangen, in der sich nach wie vor Italianismen im Spanischen befinden. Im Rahmen dieses Kapitels wird darüber hinaus die aktuelle Rolle der Italiener, ihrer Kultur und Sprache sowie ihrer Manifestierung in der argentinischen Gesellschaft erörtert.

2. Das Cocoliche

2.1. Etymologie

Ende des 19. Jahrhunderts immigrierte ein kalabresicher Hilfsarbeiter nach Argentinien. In Argentinien schloss er sich der Theatergruppe der Brüder Podestà, Söhne von aus Genua stammenden Einwanderern, an. Zusammen mit dieser Theatergruppe führte er Theaterstücke in ganz Argentinien auf und repräsentierte den Prototyp eines italienischen Einwanderers - arm, schlecht gekleidet und in einer für die Argentinier kaum zu verstehenden Sprache sprechend. Sein Name war Antonio Cocoliccio (vgl. Veith 2008: 3). Cocoliccio brachte auf Grund der Notwendigkeit sich auf der Bühne seinem Publikum verständlich zu machen die "cadenza dialettale mescolata al castigliano" (Annecchiarico 2012: 81), die für die italienischen Einwanderer typisch war, zu einem Bekanntheitsgrad.

Der argentinische Schauspieler Celestino Petray, inspiriert von Cocoliccios Art zu sprechen, imitierte diesen in dem Theaterstück "Juan Moreira", indem er seinen Akzent, die italienische Prosodie, das italienische Lexikon und die italienischen Gesten übernahm (vgl. ebd.). Zudem stellte er sich vor jeder Aufführung vor das Publikum und präsentierte sich mit folgenden Worten: "Me quiame Franchisque Cocoliche, e sogno cregollo gasta lo güese de la taba de caillo de lo caracuse" (vgl. Veith 2008: 34f). Somit war die Hauptperson dieses Theaterstücks, welches in den ärmlicheren Vierteln von Buenos Aires und in den ländlichen Gebieten Argentiniens aufgeführt wurde, ein Italiener, der sich schlecht und mit vielen Italianismen, vor allem Dialektwörtern aus Genua und Neapel (vgl. Veith 2008: 34), ausdrückte und den Namen Cocoliche trug. Cocoliche wurde bald zur Schlüsselfigur des argentinischen Theaters und wurde immer bekannter. So wurde der Begriff Cocoliche ursprünglich für die auf der Bühne verwendete Kunstsprache, durch welche die italienischen Protagonisten charakterisiert wurden, verwendet, bevor sich die Bedeutung des Begriffs mit der Zeit ausdehnte und schließlich zur Bezeichnung für die von italienischen Immigranten gesprochene Sprache diente (vgl. Engels 2012: 44).

2.2. Entstehung und Entwicklung

Wie bereits oben aufgeführt, entstand Ende des 19. Jahrhunderts auf Grund der italienischen Einwanderung eine neue Varietät - das Cocoliche. Die Entstehung und Entwicklung des Cocoliche sind mit den soziolinguistischen Faktoren der italienischen Immigranten zu erklären. Der Großteil der Italiener in Argentinien hatte eine eher einfache Herkunft mit wenig Bildung. Unter ihnen befanden sich auch zahlreiche Analphabeten. Ferner beherrschten die allermeisten Italiener lediglich ihren lokalen Dialekt der Herkunftsregion und verfügten, wenn überhaupt, nur über geringe Kenntnisse eines am Standard orientierten Italienisch. Diese Aspekte erwiesen sich dementsprechend als Hürde für das Erlernen der neuen Fremdsprache Spanisch (vgl. Veith 2008: 35). Zwar erhielten die Einwanderer in Argentinien Spanischsprachkurse, doch gaben sich die meisten Italiener mit einigermaßen pasablen Spanischkenntnissen zufrieden, da diese Kenntnisse für die Bewältigung des Alltags meist ausreichten. So arbeiteten sie hauptsächlich im landwirtschaftlichen Bereich, indem sie wenig Kontakt zu den Argentiniern hatten. Nicht nur in der Arbeit stießen sie somit auf ein eher multiethnisches Ambiente mit vielen Italienern aus den unterschiedlichsten Regionen Italiens, auch im Privaten lebten die Migranten fast ohne Außnahme zusammen. Zwar mussten sie häufig ihre Unterkunft wechseln, da der Arbeitsmarkt zu jener Zeit in Argentinien instabil war und sie sich so häufig einen neuen Arbeitsplatz suchen mussten, doch lebten die Italiener in ganz Buenos Aires verteilt (vgl. Engels 2012: 25f), was sicherlich auf den hohen Italieneranteil in Argentinien zurückzuführen ist (vgl. Ennis 2008: 295). Auch am Land blieben die Italiener meist unter sich. So existierten ganze Dörfer, deren Einwohner sogar aus derselben Region Italiens stammten. In dem Extremfall der piemontesischen Ansiedlung Santa Fe mussten sich die Argentinier sogar an die sprachliche Realität der piemontesischen Dialektsprecher anpassen (vgl. Engels 2012: 26). Somit bestand weder der Bedarf noch die Möglickeit, Spanisch zu sprechen. Trotzalledem lag die Notwendigkeit vor, mit Italienern aus anderen Dialektgebieten zu kommunizieren und sich auch mit den Argentiniern zu verständigen, wofür allerdings, wie eben erläutert, kein perfektes Spanisch vonnöten war (vgl. Veith 2008: 35). In diesem Sinne bestand ein Kultur- und Sprachkontakt, der durch die große Heterogenität der italienischen Sprecher selbst sowie durch den Kontakt mit dem Spanischen vorherrschte (vgl. Ennis 2008: 295). Daraus resultierte der Versuch das jeweils eigene dialektale Sprachsystem an das spanischen Sprachsystem Argentiniens anzupassen, wobei die phonetischen und semantischen Ähnlichkeiten der beiden romanischen Sprachen ausgenutzt werden konnten (vgl. Giacomazzi 2002: 282f). Für die Verständigung mit Argentiniern und anderen italienischen Dialektsprechern modifizierten die italienischen Sprecher geringfügig ihre eigene Sprachstruktur, was auf Grund des anhaltenden Kontakts mit Argentiniern und Italienern aus anderen Regionen zur Veränderung des Italienischen führte (vgl. Veith 2008: 35). Somit lässt sich feststellen, dass eine Klasse von Idiolekten entstanden ist, die unter vergleichbaren Bedingungen in Argentinien, in denen sich die italienischen Immigranten befanden, ermöglicht wurde, wobei sich eine mehr oder weniger fossilisierte Kompetenz des Spanischen als L2 herauskristallisiert hat. Das Cocoliche setzt sich dabei aus Elementen verschiedener italienischer Dialekte und Elementen des Spanischen aus dem Gebiet des Río de la Plata zusammen (vgl. Ennis 20018: 295). Dabei ist ebenfalls zu bemerken, dass das Cocoliche von Sprecher zu Sprecher variiert, da jeder seinen eigenen italienischen Dialekt als Grundlage nutzt und die Nähe bzw. die Distanz zum Spanischen auch je nach Fähigkeit oder Motivation, die neue Sprache zu assimilieren, schwankte (vgl. Giacomazzi 2002: 585). Aus diesem Grund kann man beim Cocoliche auch von einer Vielzahl an Idiolekten sprechen. Manche Wissenschaftler argumentieren sogar, dass es so viele Cocoliche Varianten wie Sprecher gibt, wobei die Bildung, der Beruf, die geographische Herkunft sowie der Kontakt zur einheimischen Bevölkerung ausschlaggebende Faktoren für die jeweilige Variante des Cocliche sind (vgl. Veith 2008: 37).
Meo Zilio (1989: 209) definiert dabei das Cocoliche folgendermaßen:

La cantidad y el tipo de caudal lingüistíco traído del país de origen, su dialecto y profesión, el ambiente en que se mueve, el periodo de permanencia en el país, la edad en que ha emigrado, el eventual retorno temporario a su patria, los contactos con los nuevos inmigrados y la prensa, el teatro, el cine italiano y, sobre todo, la voluntad de aprender la nueva lengua.

Durch dieses Zitat wird deutlich, wie stark das Cocoliche vom jeweiligen Sprecher abhängig ist und wie unterschiedlich es folglich ausfallen kann. In diesem Sinne spricht Meo Zilio (1989: 208) von einem "conjunto de isoglosas que se dilatan y reducen, que devienen, en fin, continuamente".

Diese Varietät, die für Außenstehende oftmals schwer zu verstehen ist, ist charakteristisch für die erste Einwanderungswelle an Italienern und für die erste Generation an italienischen Immigranten (vgl. Giacomezzi 2002: 585). Doch bereits in der 2. Generation gewann das Spanische an Überhand und griff in das italienische Sprachsystem ein, da die Kinder der ersten Generation viel mehr Kontakt mit dem Spanischen hatten und gleichzeitig der Kontakt mit dem Standarditalienischen fehlte, weshalb zur Kommunikation mit anderen Argentiniern und anderen Italienern der 2. Generation, die aus einer dialektsprachigen Familie stammten, das Spanische mehr und mehr verwendet wurde, auch weil für die L1 - der jeweilige Dialekt - die Mittel fehlten, diese weiter auszubauen (vgl. Veith 2008: 35). Ferner sprachen viele Italiener mit ihren Kindern, soweit es möglich war, Spanisch auf Grund des geringen Prestiges der italienischen Dialekte. Diese Faktoren führten dazu, dass viele Sprecher ab der 2. Generation bereits nur noch spanischsprachig waren (vgl. Engels 2012: 26, Ennis 2008: 295). 1945 folgte schließlich eine weitere Immigrationswelle an Italienern, die jedoch unter anderen Bedingungen nach Argentinien kamen. So handelte es sich meist um gebildetere Italiener, die bereits dem Italienischen (und nicht mehr nur dem Dialekt) mächtig waren. Dadurch konnten sie sich untereinander auf Italienisch unterhalten, ohne ihr L1 mit anderen Italienern modifizieren zu müssen. Des Weiteren konnten sie das nun vorhandene Angebot italienischer Medien, italienischer Kulturinstitute oder des italienischen Kinos nutzen, um weiterhin mit dem Standarditalienischen im Kontakt zu bleiben. Außerdem hatte diese neue Generation an italienischen Immigranten eine größere Motivation Spanisch zu lernen, da sie spezialisiertere Berufe ausübten, durch die sie im engeren Kontakt mit den Argentiniern standen und da sie ein größeres Interesse hatten, sich wirtschaftlich und sozial zu integrieren. Ferner ist anzuführen, dass die zweite Immigrationswelle vornehmlich aus Norditalienern bestand, deren Dialekte und auch deren italiani regionali dem Spanischen ähnlicher sind als die italienischen Varietäten der Mittel- und Süditaliener auf Grund der gemeinsamen Zugehörigkeit des Spanischen und der norditalienischen Varietäten zur Westromania, während die italienischen Varietäten südlich der La Spezia - Rimini - Linie zu Ostromania gehören (vgl. Giacomazzi 2002: 585).

Obwohl das Cocoliche von Sprecher zu Sprecher variierte und obwohl es stetig weniger Sprecher hatte, ist das Cocoliche nach wie vor präsent, und zwar in Texten des Tango, in der Bühnensprache, der Prosa und der Narration (vgl. Engels 2012: 46). Diese Entwicklung vom Alltagscocoliche hin zu einem literarischen Cocoliche ist damit zu begründen, dass die Argentinier für das Theater und ihre literarische Produktion vom Cocoliche inspiriert wurden und dieses für die Literatur übernahmen1. Dementsprechend wird das Cocoliche heute im Tango, der Literatur und von vereinzelten Sprechern aktiv angewandt (vgl. Ennis 2008: 296f). Diese Sprecherzahl ist natürlich überschaubar, verleiht dem Cocoliche jedoch noch immer eine Stimme:

Mi chiamo Rosario Salvini, sogno italiano del popolo Sicilia Santa Maria le Scale. Sogno nato nel mille novecento trentatri. Ai yegato nel quaranta siette alle argentina, il trenta agosto del quaranta y siete […] yo veniva d’ayá, iba all’agua, no? Per il mare era otra cosa, il mare era come la banquina, acá era otra cosa. Eramos otra gente. Otra vida, acá era otra vida acá en la banquina. Todo la vita arriva una banquina, di chiquito, di quattordici anni all’agua, todo a mano. Todo a mano ante! Visto come cambiò la cosa ahora? Hasta lo settante un año e depué no podía má poche mi operaron del corazone. Hace do año. Sinò todavia iva all’agua. Y no ir má.

(zitiert in Annecchiarico 2012: 92)

2.3. Varietätenlinguistische Einordnung des Cocoliche

Durch den Sprachkontakt zwischen dem Spanischen und den italienischen Dialekten ist nun das Cocoliche entstanden. Doch wie lässt sich dieses varietätenlinguistisch einordnen?

In der Fachliteratur finden sich dazu zahlreiche Ansätze, die sich untereinander widersprechen. Dies lässt auf die Schwierigkeit der Klassifikation des Cocoliche schließen.

Moliner (1998) definiert das Cocoliche als "jerga de los extranjeros; particularmente, de los italianos". Mit der Definition des Cocoliche als Jargon geht sie von einer sozial gebundenen Sprache aus, die nicht von Außenstehenden verstanden wird, sprich eine andere Dimension der Variation, die auf die individuelle L2-Kompetenz zurückzuführen ist. Jedoch ist hier entgegenzustzen, dass das Cocoliche nicht auf Grund des Versuches einer Abgrenzung entstanden ist, wie es bei einem Jargon der Fall ist, sondern gerade durch den Willen zur Kommunikation und Integration in Argentinien (vgl. Veith 2008: 39).

Ebenfalls findet sich in der Literatur die Definition des Cocoliche als Pidginsprache (vgl. Calvi 1995: 77), da das Pidgin "eine auf Basis einer oder mehrerer Sprachen entstandene, nicht standardisierte, negativ konnotierte Reduktionssprache" (Veith 2008: 39) ist, die auf eine Reduzierung und Vereinfachung des Systems der Ausgangssprache zurückzuführen ist. Ein Pidgin ensteht stets auf Grundlage zweier Sprache, deren Sprecher sich untereinander nicht verstehen. Hier ist als Gegenargument anzuführen, dass sich Spanisch und Italienisch durchaus ähneln, weshalb eine passive Sprachkompetenz des Spanischen von Seiten der Italiener auf Grund der Ähnlichkeit der beiden Sprachen vorliegt. Zudem handelt es sich beim Cocoliche im Gegensatz zum Pidgin keinesfalls um strukturelle Vereinfachungen, sondern um Interferenzen. Ferner findet das Pidgin von beiden Sprachgemeinschaften Verwendung, während das Cocoliche nur von Italienern gesprochen wird und erst im Zuge einer literarischen Aufarbeitung auch von Argentiniern genutzt wird. 

Auch die Definition als Kreolsprache scheint nicht zufriedenstellend im Falle des Cocoliche, da dieses im Gegensatz zu einer Kreolsprache kein standardisiertes Sprachsystem ist, keine L1 für seine Sprechergruppe darstellt und auch nur von der Einwanderungsgruppe selbst gesprochen wird, die diese Varietät nicht an ihre Kinder weitergeben (vgl. Veith 2008: 40).

Am schlüssigsten scheint die Einordnung des Cocoliche als Kontaktvarietät, wie es Veith (2008) und Engels (2012) nach der Definition der Kontaktvarietäten von Lüdtke (2005) machen. Dabei durchlaufen zwei Varietäten mehrere Phasen, wodurch eine oder mehrere Kontaktvarietäten entstehen. Im Falle des Cocoliche lagen die Varietäten Italienisch mit seinen Dialekten und Spanisch ursprünglich in geographisch voneinander getrennten Orten vor, die in einer zweiten Phase auf Grund der Immigration der Italiener nach Argentinien in Kontakt traten. Das Spanische ist hier nun die Varietät A mit einem hohen Prestige, während das Italienische mit seinen Dialekten die Varietät B darstellt, die ein geringeres Prestige aufweist. In der dritten Phase lernen die italienischen Immigranten Spanisch, woraufhin die neue Varietät A' entsteht: das Cocoliche. Diejenigen Einflüsse, die das Italienische auf das spanische Sprachsystem haben, evoziert die Varietät B'. In Argentinien hat sich somit in einer vierten Phase eine neue Varietät durchgesetzt: die Kontaktvarietät Cocoliche (vgl. Engels 2012: 28ff).

Da dieser Prozess fließend ist und einen starken Übergangscharakter zwischen einem hispanisierten Italienisch und einem italianisierten Spanisch hat, kann nochmal zwischen dem Cocoliche im weiteren Sinne und dem Cocoliche im engeren Sinne unterschieden werden: Während das Cocoliche im weiteren Sinne den gesamten Prozess des sprachlichen Übergangs vom Italienischen ins Spanische umfasst, begrenzt sich die Definition des Cocoliche im engeren Sinne auf die hybridste Form des italienisch-spanischen Sprachkontakts (vgl. Veith 2008: 36).

2.4. Sprachliche Charakteristika des Cocoliche

In diesem Kapitel sollen nun einige sprachliche Phänomene des Cocoliche besprochen werden, wobei nochmal zu betonen ist, dass es sich dabei um keine homogene Varietät handelt, sondern vielmehr um unterschiedliche Charakteristika und Ausprägungen, die vor allem auf die regionale Herkunft des Sprechers zurückzuführen sind. Da das Cocoliche von den italienischen Dialekten gefärbt ist, gibt es gleichsam Auskunft über die regionale Herkunft in Italien und die Aufenthaltsdauer in Argentinien des jeweiligen Sprechers. Somit stellt das Cocoliche eine Kontinuum dar, welches von einer durch Interferenzen mit der dialektal geprägten Varietät bis zu einem nahezu perfekten rioplatensischen Spanisch reichen kann (vgl. Engels 2012: 45f). Trotz seiner Instabilität und Formenvielfalt sollen nun einige markante Merkmale des Cocoliche vorgestellt werden, die als Tendenzen dieser Varietät gedeutet werden können, wobei besonders die Lexik, Phonetik und Morphosyntax betroffen sind (vgl. Ennis 2008: 312).

Die Lexik des Cocoliche besteht aus Einheiten mit italienischem bzw. dialektalem Ursprung, Einheiten mit spanischen Ursprung sowie aus Hybridbildungen aus italienischen/dialektalen und spanischen Lexembestandteilen, wobei sich auch hier ein Kontinuum deutlich macht: Waren im Anfangsstadium noch eine deutliche Überzahl an italienischen/dialektalen Lexemen vorhanden, wurden diese mit der Zeit immer weiter durch spanische Äquivalente ausgetauscht bis sich zum Schluss ein hauptsächlich hispanisiertes Lexikon, bei denen es sich dann vor allem um italienische Bedürfnislehnwörter handelte, herauskristallisierte (vgl. Veith 2008: 46f). Die Italianismen bestanden aus einzelnen Wörtern, Redewendungen oder Formeln des Italienischen (vgl. Ennis 2008: 311). Als Hybridbildungen ist beispielsweise die Verschmelzung von it. realtà mit sp. realidad zu betrachten, die im Cocoliche in realità mündete (vgl. Engels 2012: 49). Bei den Lexemen handelt es sich häufig um spanische Bedürfnislehnwörter, die im Cocoliche integriert wurden, da es für das Signifikat im Italienischen oder im italienischen Dialekt keinen adäquaten Signifikanten gab.

  • bombachas (weite Hosen). Die Pluralbildung ist hier an das spanische Sprachsystem angepasst.
  • mate (ein argentinischer Tee)

Darüber hinaus gab es auch Luxuslehnwörter, sprich spanische Lexeme, für die es eigentlich ein entsprechendes Äquivalent im Italienischen gibt.

  • asado con cuero (it. arrosto alla griglia con pelle)
  • cobrar (it. riscuotere)

Lehnverbindungen zählen zu den Hybridbildungen, wobei Teile eines Lexems durch Bestandteile der jeweils anderen Sprache ersetzt werden,

  • ladroni < it. ladri + sp. ladrones
  • lamentabile < it. lamentevole + sp. lamentable
  • melanjena < it. melanzana + sp. berenjena
  • intervenzione < it. intervento + sp. intervención

Ferner sind im Rahmen des Lexikons Lehnbedeutungen vorzufinden, wobei ein italienisches Lexem eine zusätzliche Bedeutung eines spanischen Lexems annimmt und somit eine Bedeutungserweiterung vorliegt.

  • adorno 'geschmückt, verziert' + 'der Schmuck, die Verzierung' < sp. adorno + it. ornamento
  • assunto 'Aufgabe, Auftrag' + 'Angelegenheit' < sp. asunto + it. affare
  • pasto 'Essen, Mahlzeit' + 'Gras' < sp. pasto + it. erba

(vgl. Veith 2008: 47f)

Im Rahmen der Phonetik sind im Cocoliche einige Besonderheiten vorzufinden. So ist die Ersetzung des velaren Frikativs [χ] durch den Okklusiv [k] auffällig.

  • vjake < sp. viaje
  • trabakàr < sp. trabajar
  • okos < sp. ojos
  • vieko < sp. viejo

Die Ursache für dieses Phänomen liegt im italienischen Konsonantensystem, welches nicht über den Laut [χ] verfügt. Daher erstzen Italienischsprecher diesen Laut, der im Spanischen frequent ist, durch den velaren, stimmlosen Laut [k] (vgl. ebd: 98).

Des Weiteren knüpfen Cocoliche-Sprecher ein -e am Wortende eines spanischen Lexems an.

  • pagare < sp. pagar
  • barke < barco

Dieses Phänomen ist besonders bei Neapolitanern präsent. Zwar sind im Allgemeinen Konsonanten am Wortende nicht typisch für das Italienische, doch sind in einigen norditalienischen Dialekten wie dem dialetto veneto, dem dialetto lombardo und dem dialetto piemontese Wörter mit Konsonanten am Wortende vorzufinden. Aus diesem Grund gestaltet es sich für Norditaliener als einfacher spanische Wörter, die mit einem Konsonanten enden, auszusprechen (vgl. Engels 2012: 89f, 194)

Aus dem kalabresischen Dialekt ist der Einfluss des Rhotazismus von /d/ zu /r/ und von /l/ zu /r/ bemerkbar, ein Phänomen, das es auch in Sizilien und den Abbruzzen gibt.

  • argu < sp. algo
  • arguno < sp. alguno

Auch der dialetto genovese hat Spuren im Cocoliche hinterlassen, indem ein im Spanischen geschlossenes [o] zu einem [u] wird.

  • hagu < sp hago
  • tengu < sp. tengu
  • vistu < sp. visto
  • rilaciun < sp. rilacion

(vg. Ennis 2008: 307f)

Auch in der Morphosyntax weist das Cocoliche sprachliche Besonderheiten auf. So wird die italienische Struktur der Verbindung von Artikel und Possesivpronomen übernommen.

  • la sua casa
  • la me mochacha

In den spanischen Zeitformen preterito imperfecto und preterito pluscuamperfecto wird die Form des Auxiliarverbs durch ein /b/ ergänzt.

  • habiban fato < sp. habían fato + it. avevano fatto
  • habiba escrebido < sp. había escrito + it. aveva scritto
  • reiba < sp. reía + it. ridevo
  • creiba < sp. creía + it. credevo

Man beachte hier, dass im Spanischen der Unterschied zwischen <b> und <v> lediglich in der Graphie deutlich wird, während er im Mündlichen nicht wahrzunehmen ist. Daraus lässt sich der Wandel vom italienischen [v] in das [b] im Cocoliche erklären (vgl. Ennis 2008: 309f).

Ferner lassen sich auch in der Semantik des Cocoliche Einflüsse des Italienischen beim Kontakt mit dem Spanischen feststellen: So haben viele Cocoliche-Sprecher Probleme bei der Unterscheidung von sp. tener und sp. haber, weshalb sie diese beiden Verben semantische häufig nicht adäquat verwenden (vgl. Engels 2012: 49).

2.5. Das literarische Cocoliche

Auch wenn das Cocoliche im alltäglichen Leben des 21. Jahrhunderts bis auf ein paar vereinzelte Sprecher kaum noch gesprochen wird, erreichte es die Literatur, in der es nach wie vor präsent ist (vgl. Annecchiarico 2012: 84). Das literarische Cocoliche bezeichnet eine an dem Alltagscocoliche orientierte Darstellung der Protagonisten der Literatur, des Theaters und des Tango (vgl. Engels 2012: 55). Im Schriftlichen haben sich zahlreiche Phänomene manifestiert, die jedoch zum Teil auch überzeichnet präsentiert werden (vg. Ennis 2008: 313), Ziel des Cocoliche in der Literaturwelt sind die Neutralisierung fremdenfeindlicher Assoziationen zum einen und zum anderern das Evozieren von Assoziationen bestimmter Milieus in Argentinien. Nach wie vor werden durch das Cocoliche italienische Protagonisten kenntlich gemacht und nach wie vor besitzt das Cocoliche im Theater die Funktion, das Publikum zum Lachen zu bringen. Dementsprechend kann festgehalten werden, dass es sich beim literarischen Cocoliche häufig mehr um kommerzielle Zwecke handelt als um die kommunikative Notwendigkeit sich zu verständigen (vgl. Engels 2012: 62f).

Die literarische Produktion erweist sich als Manifestierung sprachlicher Merkmale des Cocoliche, die in der Literatur festgehalten werden. So handelt es sich im gewissen Sinne um sprachliche Artefakte über eine einstige Kultur und ihrer Sprachproduktion, die bis Mitte des 20. Jahrhunderts besonders in Buenos Aires stark verbreitet war und die noch identitätsstiftend für die italienischen Immigranten der ersten Generation und ihrer Nachfahren sind (vg. Ennis 2008: 296). Gleichzeitig bilden gerade diese sprachlichen Charakteristika des literarischen Cocoliche eine Rekonstruktionsgrundlage für die sprachlichen Merkmale des Alltagscocoliche. Dabei eignen sich besonders gut Theaterstücke, da diese den Anspruch erhoben haben, der Alltagsvarietät besonders nahe zu kommen. Analysiert man das literarische Cocoliche des auslaufenden 19. Jahrhunderts und des 20. Jahrhunderts, können wichtige Rückschlüsse auf das im Alltag gesprochene Cocoliche gezogen werden (vgl. Engels 2012: 76). Besonders häufig lassen sich Einflüsse der neapolitanischen und genuesischen Dialekte in der Literatur feststellen (vgl. ebd.: 87).

Im literarischen Cocoliche ist anschaulich durch die Graphie feststellbar, wie auch die Schrift durch den Kontakt des Italienischen mit dem Spanischen beeinflusst wurde.

  • chentro < it. centro

Im vorliegenden Beispiel wird die italienische Aussprache [tʃ] realisiert. Allerdings werden in der Graphie die  Regeln der spanischen Orthographie verwendet.

Ähnliches gilt für folgendes Beispiel:

  • iñoro < it. ignoro

Auch hier wird die italienische Aussprache übernommen, die jedoch wie in der spanischen Orthographie verschriftlicht wird (vgl. Engels 2012: 220).

3. Das Lunfardo

Das Lunfardo ist eine weitere Varietät im Raum des Río de la Plata, welche auf Grund des Kontaks zwischen dem Italienischen, dem Spanischen und weiterer Varietäten des kommunikativen Raums des Río de la Plata  entstanden ist. Im Gegensatz zum Cocoliche, welches ausschließlich von italienischen Immigranten aus dem Bemühen heraus, sich dem Spanischen in Argentinien anzupassen, gesprochen und höchstens zum Zwecke literarischer Produktion von Argentiniern imitiert wird, ist das Lunfardo eine Varietät, die auch von den Einwohnern von Buenos Aires selbst gesprochen wird (vgl. Annecchiarico 2012: 95). Im Sprachbewusstsein ist das Lunfardo allerdings kaum verankert. Für viele Lateinamerikaner ist das Lunfardo ein Rätsel. Sie kennen den Begriff, haben aber ansonsten kein konkretes Wissen darüber. Mit dem Tango jedoch wird das Lunfardo sofort in Zusammenhang gebracht (vgl. Peréz Gauli 2002: 555).

3.1. Etymologie

Woher kommt der Begriff "Lunfardo"? Die Etymologie ist in diesem Falle etwas umstrittener. Amaro Villanueva stellte jedoch eine Theorie auf, auf die sich die Literatur häufig bezieht. Laut dieser Theorie kommt der Begriff "Lunfardo" von einigen italienischen Dialekten, in denen lombardo die Bedeutung "Dieb" innehatte. Gleichzeitig bezieht sich das Wort it. lombardo natürlich auch auf die Lombarden selbst. 

Nun wurden die Lombarden ab dem 14. Jahrhundert durch deutsche Fürsten unterstützt, weshalb es ihnen gelang im Finanzsektor stark zu werden. Italiener, die in Geldgeschäften deutscher Regionen des Heiligen Römischen Reichs deutscher Nationen tätig waren, wurden damals im Allgemeinen als it. lombardi bezeichnet. Aus diesem Grund entstand die Theorie, dass sich die etymologische Herkunft des Wortes lunfardo, nämlich lombardo, sowohl auf die Bedeutung "Dieb" als auch auf die Bedeutung "Einwohner der Lombardei" beziehen kann (vgl. Wunderlich 2014: 34).

Im Mittelalter wurden all jene, die im Finanzsektor tätig waren, als Dieb bezeichnet. Nachdem auch viele Italiener in diesem Bereich tätig waren, erhielten sie Ende des 19. Jahrhunderts, als viele italienische Migranten nach Argentinien kamen, den Namen lombardo (vgl. Pérez Gauli 2002: 556).

Das Wort lombardo erfuhr in Argentinien eine phonetische Veränderung auf Grund der großen Einwanderung aus Neapel. Im neapolitanischen Dialekt wird das [b] oft zu einem [v], weshalb aus lombardo lunfardo wurde. (vgl. ebd.: 555).

3.2. Entstehung und Entwicklung des Lunfardo

Das Lunfardo ist in der Hafenstadt Buenos Aires Ende des 19. Jahrhunderts/Anfang des 20. Jahrhunderts entstanden, da sich Buenos Aires durch die ansteigende Immigrationszahlen in eine interkulturelle Stadt entwickelte, in der viele Nationalitäten zusammentrafen und zusammenlebten. Im Jahre 1895 lebten in Buenos Aires mehr Ausländer als Argentinier, bis sich diese Situation in den 1929er Jahren langsam wieder stabilisierte und gleich viele Migranten wie Argentinier dort lebten. Diese Situation, in der Menschen aus unterschiedlichen Herkunftsorten mit unterschiedlichen Sprachen zusammenlebten, evozierte den Bedarf und die Notwendigkeit, sich miteinander zu identifizieren und verständigen zu können. Der Schlüssel dafür war eine gemeinsame Sprache. So wurde die Sprache der anderen imitiert und die Imitationen in die eigene Sprache integriert. Vor allem wurde das Italienische mit seinen Dialekten nachgeahmt, da es sich um die größte Sprechergruppe handelte. Aber auch französische, englische, türkische, finnische, japanische und spanische Sprecher wurden imitiiert und selbst sprachliche Merkmale der Sprache der argentinischen Ureinwohner wurden mit in das neue Sprachsytem integriert (vgl. Annecchiarico 2012: 96).

Selbst die Porteños, die Hafeneinwohner aus Buenos Aires, übernahmen zahlreiche Lexeme der neuen Sprachen und Dialekte, die plötzlich in Argentinien zu hören waren (vgl. Veith 2008: 48).

Somit stand das Spanische vor allem im Bereich der Lexik unter einem großen Einfluss, da die Immigranten beim Versuch Spanisch zu lernen ihre eigene L1 ins Spanische übernahmen. Diese Interferenzen im Spanischen durch andere Varietäten wurden auch von Sprechern anderer L1 aufgenommen und weitergetragen. Die Lust am Spiel mit der Sprache und das Bedürfnis, sich vom Standard abzugrenzen, motivierte schließlich auch viele spanische L1 Sprecher, die neu entstandene Varietät zu sprechen und evozierte letztendlich auch eine Beteiligung der Schriftsteller und Poeten, die maßgeblich an der Verbreitung des Lunfardo beteiligt waren (vgl. Wunderlich 2014: 28f).

Auf diese Weise ist also eine neue Varietät unter Beteiligung der Immigranten zahlreicher Herkunftsorte und schließlich auch unter Beteiligung der Argentinier selbst entstanden.

Gobello (1990: 9) definiert das Lunfardo dabei folgendermaßen:

Repertorio lexico de origen inmigratorio que circula en determinado nivel de lengua y se enrique con aportes de terminos anteriores a la inmigración (prelunfardismos) y otros posteriores a ella (postlunfardismos).

Das Lunfardo entwickelte sich bei den Kindern der ersten Generation von Immigranten, die bereits die Schulen Argentiniens besuchten, in denen sie Spanischunterricht erhielten und somit ein verändertes Sprachrepertoire gegenüber jenem der Eltern aufwiesen, die reine Dialektsprecher waren und Spanisch nur bedingt gut sprachen. Während die erste Generation reine Dialektsprecher blieben oder das Cocoliche sprachen, beherrschte die zweite Generation auch das Spanische. Die Modifizierungen der Sprache, die die zweite Generation an italienischen Immigranten vornahm, betrafen folglich italienische Einflüsse v.a. im Bereich des Lexikons auf das Spanische unter Berücksichtigung anderer sprachlicher Einflüsse von Migranten aus anderen Herkunftsorten aus gruppenkonstituierenden und identitätsstiftenden Gründen. Die Modifizierungen, welche die erste Generation am Sprachsystem vornahm, betrafen hingegen die eigene L1, meist den Dialekt des italienischen Herkunftsortes, unter einem Einfluss des Spanischen. Diese Unterscheidung der Entstehung zweier verschiedener Varietäten lassen sich durch unterschiedliche soziolinguistische und außersprachliche Faktoren begründen. Zwar treffen in beiden Fällen unterschiedliche Milieus und Varietäten aufeinander, doch sind die Sprecher des Lunfardo bereits in Argentinien geboren, sprechen Spanisch, leben ausschließlich in Buenos Aires und partizipieren somit am Leben der Hafenstadt, in der stets neue sprachliche und soziale Einflüsse auf das eigene Sprachsystem durch die stetig neuen Immigranten wirken (vgl. Wunderlich 2014: 29, Annecchiarico 2012: 95ff).

Wie wurden nun die italienischen Lexeme ins Lunfardo aufgenommen?

In einem ersten Schritt wurden die italienischen Lehnwörter in die Sprache der Criollos 2 integriert, woraufhin einige argentinische Schriftsteller auf diese Lehnwörter aufmerksam wurden und sie in Karikaturen, Erzählungen und Tangotexten verarbeiteten. Dadurch erfuhren die italienischen Lexeme eine große Aufmerksamkeit, wodurch sie sich auch in der Alltagssprache verbreiteten (vgl. ebd.: 48).

Diese Erklärung ist jedoch nicht vollkommen unumstritten.

Andere Wissenschaftler argumentieren, dass sich die italienischen Lexeme parallel von der Literatur im Lunfardo integriert haben. Laut dieser Theorie fand die Aufnahme der italienischen Lexeme überall dort statt, wo Immigranten verschiedener Herkunftsorte aufeinandertrafen oder mit criollos in Kontakt traten. Prädestiniert für diese Kontaktaufnahme waren der Hafen von Buenos Aires sowie all die Plätze in der Stadt, an denen Straßengespräche stattfanden (vgl. ebd.)

3.3. Varietätenlinguistische Einordnung

Bevor konkret auf die sprachlichen Merkmale des Lunfardo eingegangen und Sprachbeispiele gegeben werden, soll in diesem Kapitel auch noch eine kurze varietätenlinguistische Einordnung des Lunfardo erfolgen.

Auch im Falle des Lunfardo herrscht in der Wissenschaft eine Diskussion darüber, um welche Varietät es sich handelt. Weder erreicht das Lunfardo den Status einer Sprache noch ist es  ein Dialekt, da es sich um das lexikalische Inventar verschiedener Herkunftsvarietäten, das in das spanische Sprachsystem integriert wird, handelt (vgl. Annecchiarico 2012: 97f).

Gobello (1990) bezeichnet das Lunfardo als einen Jargon, da es sich um eine Sondersprache handelt, die für Außenstehende nicht verständlich ist. Außerdem ist das Lunfardo im Sinne eines Jargons auf Grund einer gemeinsamen Identität der Sprecher entstanden mit dem Wunsch, sich von anderen abzugrenzen. Eine kommunikative Notwendigkeit bestand im Falle der Herausbildung des Lunfardo nicht, da sich seine Sprecher auch auf Spanisch hätten unterhalten können. Annecchiarico (2012: 98) spricht von einem lexikalischen Kodex, der nur für wenige verständlich ist. Auch diese Definition entspricht jener des Jargons.

3.4. Sprachliche Charakteristika

Das Italienische hatte einen besonders großen Einfluss auf die Entwicklung des Lunfardo, weshalb zahlreiche italienische Lexeme oder Lexeme auf Grundlage italienischer Dialekte im Lunfardo zu finden sind. Während das Cocoliche noch stark von den süditalienischen Dialekten geprägt wurde, sind im Lunfardo besonders viele Lexeme auf Basis norditalienischer Dialekte präsent (vgl. Wunderlich 2014: 43ff). Dies ist damit zu begründen, dass sich das Lunfardo auch noch stark im 20. Jahrhundert entwickelt hat, als mehr Norditaliener nach Argentinien immigrierten (vgl. Giacomazzi 2002: 585, Wunderlich 2014: 47).

Die Basis des Lunfardo ist das Spanische von Bueonos Aires und seinen Außenbezirken. Das Lunfardo selbst verfügt über keine eigene Syntax, sondern bedient sich der des Spanischen. Das charakteristische am Lunfardo ist das eigene reiche Lexikon mit Lehnwörtern aus anderen Sprachen und Dialekten (vgl. Pérez Gauli 2002: 559). Die Lehnwörter werden dabei phonetischen Veränderungen nach spanischem Vorbild unterzogen, bevor sie in das Lunfardo aufgenommen werden. Diese Lehnwörter stammen hauptsächlich von indigenen Sprachen, dem Portugiesischen, dem französischen Jargon, von afrikanischen Sprachen, deren Sprecher als Sklaven nach Argentinien gekommen waren, von deutschen und italiensichen Lehnwörtern und Lehnwörtern der italienischen Dialekte (vgl. ebd.: 563 - 566).

Dementsprechend ist das Lunfardo eine Varietät des Spanischen, die auf der Dimension der Diastratik eher niedrig markiert ist und von derjenigen argentinischen Bevölkerungsgruppe gesprochen wird, die am einfachen Hafenleben teilhat. Diaphasisch wird das Lunfardo in informelleren Situationen und in Alltagsgesprächen verwendet und beschränkt sich im Rahmen der Diatopik auf Buenos Aires.

Im Folgenden werden nun einige Lexeme des Lunfardo aufgeführt, die Lehnwörter aus dem Italienischen und seiner Dialekte sind.

Ein paar der Lexeme sind dabei direkt aus dem Italienischen in das Lunfardo integriert worden.

  • crepar < it. crepare vs. sp. morir

In diesem Sprachbeispiel wird auch der umgangssprachliche Charakter des Lunfardo bemerkbar. It. crepare ist diastratisch eher niedrig markiert, wohingegen das Pondon zu sp. morir it. morire wäre, das jedoch nicht in das Sprachsystem des Lunfardo integriert wird. Der nähesprachliche Bereich, indem das Lunfardo gesprochen wird, sowie sein kolloquialer Charakter werden durch dieses Beispiel deutlich.

  • chipola < it. cipolla vs. sp. cebolla

Dieses Beispiel verdeutlicht, dass das italienische Lexem mit seiner Phonologie übernommen wird, jedoch mit der spanischen Orthographie und den orthographischen Regeln zur Aussprache in das Sprachsystem des Lunfardo integriert wird.

  • estufare < it. stufare vs. sp. aburrir

Beim vorliegenden Verb erkennt man den italienischen Verbstamm mit der italienischen Endung des Infinitiv, wobei ein <e> vorne angestellt wird, wie es häufig im Spanischen der Fall ist (vgl. Pérez Gauli 2002: 564f).

Nun wurde aber der größte Teil des von einer italienischen Varietät stammende Lexikon im Lunfardo aus italienischen Dialekten entlehnt (vgl. Wunderlich 2014: 44), weshalb folgend einige Beispiele von Lexemen im Lunfardon vorgestellt werden, die dialektalem Urspungs sind. Wie bereits erwähnt befinden sich im Lunfardo auffallend viele Lehnwörter aus den norditalienischen Dialekten (vgl. ebd.: 47).

  • bacán : Chef < it. baccan 'Chef des Ortes'

Dieses Lexem hat seinen Ursprung im genuesischen Dialekt. Aus diesem Dialekt stammen besonders viele Lehnwörter im Lunfardo, da viele genuesische Migranten nach Argentinien gekommen sind (vgl. ebd.: 80). Dasselbe gilt auch für das nächste Beispiel, ein Wort, das ebenfalls aus dem genuesischen Dialekt kommt:

  • berretín: 'Illusion' < it. berrettin

Aus dem dialetto piemontese wurde ein weiteres Lexem entlehnt:

  • biguga: 'Geld' < it. bigeuia

Aus dem dialetto veneto wurde folgendes Lexem entlehnt:

  • cana: 'Gefängnis, Polizei' < it. cana

Aber natürlich sind auch einige Lehnwörter aus den süditalienischen Dialekten im Lunfardo vorhanden, wie folgende Beispiele zeigen:

  • escashar 'zerbrechen' < it. scasicare, aus dem neapolitanischen Dialekt
  • escoñar 'einen Schaden erzeugen' < scugnare, aus dem neapolitanischen Dialekt

(vgl. Wunderlich 2014: 47).

3.5. Aktuelle Situation des Lunfardo

Heute ist das Lunfardo - wie auch das Cocoliche - hauptsächlich in der Literatur präsent. In Romanen, Gedichten, Erzählungen sowie Wörterbüchern und besonders auch in den Texten des Tango findet das Lunfardo heute noch seine Verwendung (vgl. Annecchiaria 2012: 570).

Besonders der Tango bietet heute ein breites Spektrum an Lexemen des Lunfardo, was sicherlich mit ihren Parallelen in der Entstehung und der Themen zu begründen ist. Sowohl das Lunfardo als auch der Tango sind beide in den ärmlicheren und urbanen Gebieten Argentiniens entstanden und wurden im besonderen Maße von den Immigranten geprägt. Außerdem sollten beide eine Provokation für die obere Gesellschaftsschicht darstellen. Die Lunfardismen der Tangotexte beziehen sich hauptsächlich auf das Lexikon der im Tango dominanten Themen: Kriminalität, Tanz, Niederlagen, Träume und Wünsche (vgl. Wunderlich 2014: 77).

Im Folgenden wird ein kurzer Ausschnitt eines Tangotextes des Tangos Margot (Video) vorgestellt, um die in ihm vorhandenen Lunfardismen zu veranschaulichen, die im Text fett markiert sind.

Bereits das Thema dieses Textes gibt uns Auskunft über die Intention des Dichters, nämlich die Bescheibung des ärmlichen und sehr problematischen Lebens des Mädchens Margot.

Original Deutsche Übersetzung
Margot
Si te embroca desde lejos,
pelandruna abacanada,
que has nacido en la miseria
de un convento de arrabal.
Porque hay algo que te vende,
yo no sé si es la mirada,
la manera de sentarte,
mirar, de estar parada
o ese cuerpo acostumbrado
a las pilchas de percal.
Margot
Schon von fern sieht mans dir an,
du armes eitles Ding,
dass du im Elend geboren bist.
Denn es gibt etwas, das dich verrät:
Ich weiß nicht, ob es dein Blick ist,
deine Art dich zu setzen,
zu schauen oder dich zur Schau zu stellen,
oder dieser Körper
ist an einfache Kleider gewöhnt.

 

(zitiert in Wunderlich 2014: 78)

Folgende Lexeme aus dem Lunfardo sind in diesem Textausschnitt feststellbar:

  • embrocar: 'anschauen, beobachten' < it. imbroccare, it. imbroccare ist dem italienischen Jargon in Argentinien zuzuordnen
  • pelandruna: 'arm' < it. pelandruna, dieses Lexem kommt aus dem dialetto genovese
  • abacanado: 'überheblich' < it. abacanado, auch dieses Lexem wurde aus dem dialetto genovese entlehnt
  • parada: 'Prahlerei' < sp. parar, in diesem Fall handelt es sich um ein Derivat aus dem Spanischen
  • pilcha: 'Kleidung' < pulcha 'Falte', eventuell aus dem Araucano, eine indigene Sprache
  • percal: 'billiger Stoff' < sp. percal

Wie durch dieses Beispiel deutlich wird, setzt sich das Lunfardo aus Lexemen vieler Sprachen zusammen, die als Lunfardismen in die spanischen Tangotexte übernommen werden (vgl. Wunderlich 2014: 78ff). Durch den Tango, aber auch durch das Theater, die Literatur und die Presse erhielt das Lunfardo bereits in seiner Entstehung eine Basis der Verbreitung. Heute erfährt das Lunfardo einen weiteren Gebrauch durch die Rockmusik. Viele junge argentinische Rockmusiker bedienen sich einiger verbreiteter Lunfardismen für ihre Texte (vgl. Wunderlich 2014: 69).

Neben der literarischen Produktion ist das Lunfardo jedoch auch weiterhin in der gesprochenen Sprache verankert. Einige Lexeme sind dabei fest in die Umgangssprache des kommunikativen Raums des Rio de la Plata integriert, wobei die meisten Sprecher diese unbewusst verwenden (vgl. ebd.: 156).

Verankert man das gesprochene Lunfardo von heute in das Varietätengefüge, ist festzustellen, dass es im Rahmen der Diastratik hauptsächlich von Männern der älteren Generation gesprochen wird. Die junge Generation weist eine eher geringere Verwendung des Lunfardo auf, wobei sie dann auf die im Alltag manifestierten Lunfardismen zurückgreifen. Im Rahmen der Diaphasik ist anzumerken, dass die Sprecher das Lunfardo vorrangig im nähesprachlichen Bereich und in informellen Situationen des Alltags nutzen. Wie vorher auch schon angemerkt wird das Lunfardo im Geschriebenen auch im künstlerischen, literarischen Bereich genutzt, wobei hier die Intention die künstlerische Produktion ist und nicht wie im gesprochenen Lunfardo als reines Kommunikationsmittel dient. Die starke literarische Verarbeitung des Lunfardo ist aber sicherlich auch mit der in der Entstehungsgeschichte verankerten Identität mit den Immigranten und dem Abgrenzungswillen zur Oberschicht zu begründen. Diatopisch gesehen lässt sich das Lunfardo in den Raum von Buenos Aires und in jenen von Montevideo verorten (vgl. ebd.: 157).

Im Mündlichen werden beispielhaft folgende Lunfardismen, die italienische Lehnwörter sind, noch heute real verwendet:

  • berreta < it. berreta, aus den norditalienischen Dialekten
  • gamba  < it. gamba
  • laburar < it. lavorar
  • laburo  < it. lavoro
  • matina < it. mattina
  • pintar  < it. pintare
  • bacán  < it. baccan, aus dem genuesischen Dialekt

(vgl. ebd.: 182)

4. Das Italienische in Argentinien im 21. Jahrhunderts

4.1. Kulturelle und politische Verankerung des Italienischen in Argentinien

Noch heute ist Argentinien weltweit das Land mit den meisten italienischen Immigranten. Mittlerweile leben 868.265 eingeschriebene Italiener in Argentinien (www.pagellapolitica.it). Daher ist es nicht verwunderlich, dass neben den sprachlichen Einflüssen auch eine kulturelle Manifestierung der italienischen Kultur in Argentinien vorliegt. Im Folgenden soll nun an einigen ausgewählten Beispielen die italienische Präsenz in Institutionen, Schulen und Medien in Argentinien und der Städtestruktur  von Buenos Aires dargelegt werden.

Im Jahre 1900, zu Zeiten der großen Einwanderung von Italienern in Argentinien, wurde ein Gesetz verabschiedet, welches das Italienische zur obligatorischen Fremdsprache in den staatlichen weiterführenden Schulen machte. Dieses Gesetz wurde allerdings im Jahre 1941 abgeschafft, da die argentinische Regierung befürchtete, dass zum einen das Italienische die spanische Sprache bedrohen würde und zum anderen die Unterstützung der italienischen Sprache, Kultur und Identität die Spaltung des Landes zur Folge haben könnte. Aus diesem Grund war es fortan nur noch möglich Italienisch an privaten Schulen zu lernen (vgl. Engels 2012: 27). Bis zum Jahr 2000, als wegen eines Kooperationsabkommens im Bildungssektor zwischen Italien und Argentinien Italienisch wieder an einigen staatlichen Schulen gelehrt wird. Seit 2001 gibt es zudem mehrere plurilinguale Schulen in Argentinien, in denen es auch möglich ist, Italienisch ab der ersten Schulklasse in acht Wochenstunden zu lernen. Neben dem reinen Spracherwerb wird in diesen Schulen auch italienische Landeskunde vermittelt (vgl. Veith 2014: 128). Eine italienische Schule in Buenos Aires ist zum Beispiel die Scuola Italiana Cristoforo Colombo, die unter anderem auch Reisen nach Italien organisiert, wo sie Städte wie Rom, Florenz, Siena und Venedig anschauen und auch die Landschaft um Neapel mit dem Vesuv und den Stränden besichtigen. Die Schule orientiert sich am italienischen Bildungsplan und stellt bei erfolgreichem Abschluss der Scuola Superiore ein Diploma di Stato Italiano aus. Es handelt sich um ein bilinguales Abitur, das die Absolventen dazu berechtigt, sich in allen Universitäten Argentiniens und Italiens einzuschreiben (www.cristoforocolombo.org.ar).

Weitere italienische Schulen sind:

Neben den italienischen Schulen gibt es in Argentinien italienische Institutionen, die sich um die Vermittlung der italienischen Sprache und Kultur kümmern. Bekanntestes Beispiel ist das Istituto Italiano di Cultura di Buenos Aires, das italienische Sprachkurse anbietet, kulturelle Aktivitäten wie Lesungen, Konzerte oder Kinovorstellungen organisiert und eine große Bibliothek mit italienischen Büchern und Filmen hat.

Auch in Buenos Aires gibt es das COMITES - Comitato degli Italiani all'estero. Sie haben einen Facebookauftritt und organisieren Feste, Informationsveranstaltungen, kulturelle Veranstaltungen und haben das Ziel, die Italiener untereinander zu vernetzen.

Aber auch Medien geben den italienischen Bewohnern von Argentinien die Möglichkeit, ihre sprachlichen Fähigkeiten weiter aktiv zu benutzen und sich über die italienische Politik und Gesellschaft zu informieren. So gibt es beispielsweise die Online-Zeitung  "Italiani a Buenos Aires", die ihre Artikel sowohl in italienischer als auch in spanischer Sprache veröffentlicht. Diese Zeitung berichtet detailliert über die aktuelle italienische Politik, veröffentlicht aber auch Artikel über politische Themen weltweit. Auf der Seite dieser Zeitung sind Links zu italienischen Institutionen, der italienischen Botschaft und dem italienischen Konsulat in Argentinien zu finden.

Aber auch das Radio bietet Sendungen auf Italienisch an. Die argentinischen Radiosender "El Mundo", "Radio Estirpe Nacional" und "Radio Armonia" strahlen besonders am Wochenende viele italienische Sendungen aus. "Radio Metropolitana" hat sogar täglich ein dreistündiges, italienisches Programm vorzuweisen. Besonders innovativ ist das Projekt "Qui Sicilia", eine Radiosendung, die jeden Sonntag zwei Stunden lang die neuesten Nachrichten aus Italien und der Welt verbreitet und über Kunst, Kultur, Küche, Tourismus und Politik Italiens der Gegenwart berichtet (vgl.: Veith 2008: 116). Darüber hinaus bietet das argentinische Radio die Sendung "Hola Italia!", die jeden Sonntagvormittag drei Stunden lang über die italienische Geschichte, Kultur, Küche, Literatur und Politik berichtet.

Ein eigenes italienisches Fernsehprogramm gibt es in Argentinien allerdings nicht. Die einzige Möglichkeit, italienisches Fernsehen zu beziehen, ist die, per Kabelanschluss den Sender RAI International anzuschauen (vgl.: Veith 2008: 119).

Eine Besonderheit der Stadt Buenos Aires sind die zahlreichen Straßennamen in italienischer Sprache (vgl. Karte von Buenos Aires). Selbst ein gesamtes Viertel am Hafen ist nach der sizilianischen Hauptstadt Palermo benannt (vgl. Karte). In diesem Viertel findet man viele italienische Bars und Restaurants (vgl.: Trip Advisor). Außerdem geben hier auch Straßennamen, Monumente und Pätze Auskunft über die Präsenz der italienischen Bewohner der Stadt:

4.2. Sprachliche Verankerungen des Italienischen in Argentinien

Zahlreiche Italianismen aus dem Italienischen und seinen Dialekten haben in das Spanische Einzug gehalten. Die Lexik des argentinischen Spanisch ist somit deutlich vom Italienischen beeinflusst, da im Zuge der italienischen Einwanderung auch viele neue Konzepte nach Argentinien transferiert worden sind, die sprachliche Realisierungen benötigten. Besonders im kulinarischen Bereich gibt es zahlreiche Italianismen im argentinischen Spanisch. Besonders deutlich kommt der italienische Einfluss auch in der Phonetik zum Vorschein. Die Intonation wurde von der des Italienischen beeinflusst, weshalb es nicht selten vorkommt, dass den Argentiniern ein „komisches“ Spanisch von Seiten anderer Spanischsprecher attestiert wird (vg. Engels 2012: 36ff).

Da das Spanische und das Italienische in Argentinien seit der Einwanderung im stetigen Kontakt miteinander standen, sind nicht nur italienischsprachige Einflüsse im Spanischen, sondern konsequenterweise auch spanischsprachige Einflüsse im Italienischen feststellbar, die sich in der Phonetik, Morphologie, Semantik, Syntax und Lexik äußern. Vor allem die Italiener der 2. und 3. Generation, die Spanisch als L1 und Italienisch als L2 haben, weisen Phänomene des Transfers und des Code-Switchings auf. So wird das alveolare vibrante [r] vom Italienischen zu einem dentalen, alveolaren Vibranten [ɾ] wie im Spanischen. It. Roma, it. riso, it. risotto werden folglich mit einem dentalen, alveolaren, stimmlosen Vibranten realisiert.

Wörter wie it. vaso, it. vocabolario oder it. visibile werden mit einem bilabialen, stimmhaften Okklusiv [b] ausgesprochen, anstatt mit einem labodentialen, frikativen [v]. Der Unterschied zwischen <v> und <b> existiert im Spanischen nämlich lediglich in der Graphie. Außerdem wird jedes /z/, sei es im Italienischen stimmhaft oder stimmlos, wie ein stimmhaftes [s] ausgesprochen, wie es im Spanischen üblich ist.

Auch in der Morphologie gibt es zahlreiche Einflüsse vom Spanischen im Italienischen:

  • tiraggio < it. tiratura + sp. tiraje
  • accusazione < it. accusa + sp. acusación
  • lamentabile < it. lamentevole + sp. lamentable
  • colpabile < it. colpevole + sp. culpable

Hier handelt es sich um Hybridformen, die auf Grund des Sprachkontakts entstehen.

Im Rahmen der Semantik können sogenannte falsche Freunde festgestellt werden, die auf Grund der sprachlichen Ähnlichkeit der beiden Varietäten vom Spanischen ins Italienische übertragen werden. Ein Beispiel wäre folgender Satz:

  • In quel chiosco vendono solo sigarette nazionali.

Hier wird it. chiosco synonym für it. tabaccheria benutzt, obwohl im Italienischen das Lexem it. chiosco nicht dieselbe Bedeutung wie it. tabaccheria aufweist. Der Gebrauch dieses Wortes ist auf sp. quiosco zurückzuführen, welches die Bedeutung der italienischen tabaccheria trägt.

Wie durch dieses Beispiel ersichtlich wird, gibt es im Rahmen der Semantik immer wieder Lehnübertragungen von spanischen Konzepten in die italienische Lexik.

Des Weiteren sind spanische Lehnwörter innerhalb eines italienischen Satzes ohne morphologische Veränderungen zu finden, da die Sprecher bestimmte Sinngehalte mit bestimmten Konnotationen  des Spanischen ausdrücken möchten, die es im Italienischen auf diese Art und Weise nicht gibt.

  • Sono stata invitata a un asado.

 Man kann hier von einem Code-Switching sprechen, das auf Grund des Kontakts mit der spanischen Kultur stattfindet. Im Italienischen müsste dieses Wort durch eine ganze Frase ausgetauscht werden: it. carne fatta alla griglia. Da das sp. asado fest in der argentinischen Kultur und Tradition verankert ist, verwendet hier der Sprecher auch im Italienischen dieses Wort.

Innerhalb der Syntax gibt es syntaktische und stilistische Veränderungen im Italienischen, die auf des Spanische zurückzuführen sind. So wird beispielweise das Hilfsverb it. essere im passato prossimo durch das italienische Hilfsverb it. avere ausgetauscht, da es im Spanischen diese Unterscheidung nicht gibt. Man benutzt lediglich das Hilfsverb sp. haber.

  • ha morto, anstatt it. è morto. Sp. ha muerto
  • si ha vestito, anstatt it. si è vestito. Sp. se ha vestido

Außerdem werden teilweise Präpositionen ausgelassen, die im Spanischen in derselben Konstruktion nicht verwendet werden.

  • niente nuovo, anstatt niente di nuovo. Sp. nada nuevo

Ferner wird das Futur mit der Konstruktion it. andare a + Infinitiv ausgedrückt in Anlehnung an die spanische Futurbildung mit sp. ir a + Infinitiv.

  • vado a fare, anstatt it. farò. Sp. voy a hacer
  • vado a portare, anstatt it. porterò. Sp. voy a portar

(vgl. Giacomazzi 2002: 587f)

Wie durch dieses Beispiel ersichtlich wird, übt das Spanische einen Einfluss auf das Italienische aus, das in Argentinien von Italienern der 2. und 3. Generation gesprochen wird. Bei den sprachlichen Charakteristika handelt es sich um spanische Entlehnungen, die zum Teil so auch im Cocoliche vorzufinden sind, denken wir nur an das Beispiel von lamentabile. Dies ist sicherlich damit zu begründen, dass gewisse sprachliche Charakteristika auf Grund ihrer sprachlichen Natur häufig in verschiedenen Varietäten gleichsam dieselben sprachlichen Phänomene aufweisen. Tatsächlich sind ja auch einige Parallele zwischen dem Cocoliche und den spanischen Einflüssen im Italienischen der Argentinier von heute festzustellen. In beiden Fällen besteht ein Sprachkontakt und in beiden Fällen integrieren Italienischsprecher die spanische Grammatik und Lexik in das italienische Sprachsystem auf Grund einer kommunikativen Notwendigkeit. Jedoch lassen sich auch Unterschiede feststellen. Das Cocoliche ist durch den Kontakt verschiedener italienischer Dialekte untereinander und mit dem argentinischen Spanisch entstanden, wobei die Sprecher L1 Sprecher einer italienischen Varietät sind und das Spanische als Fremdsprache erlernen müssen. Auf Grund der kommunikativen Notwendigkeit sich mit den argentinischen Sprechern oder den anderen italienischen Dialektsprechern verständlich zu machen, entstand eine neue Kontaktvarietät, das Cocoliche. Im Gegensatz dazu kommen die spanischsprachigen Einflüsse der heutigen Sprecher von spanischen L1 Sprechern, die in ihrer L2 auf Italienisch kommunizieren. Sie versuchen also nicht das spanische Sprachsystem zu adaptieren, sondern intendieren, mit italienischen Sprechern auf Italienisch zu sprechen. Ferner sind keine weiteren dialektalen Einflüsse feststellbar, da die Italiener der 2. und 3. Generation keine Dialektsprecher mehr sind, da durch die italienischen Schulen in Argentinien sowie durch die Medien das italiano standard vermittelt wird. Die zum Teil gleichen oder ähnlichen sprachlichen Phänomene sind eventuell sowohl der sprachlichen Ähnlichkeit zwischen dem Italienischen und dem Spanischen, als auch der Notwendigkeit, sich einer anderen Varietät bedienen zu müssen, welche der Sprecher an das jeweils andere Sprachsystem anpassen möchte, geschuldet.

Code-Switching findet jedoch eher selten statt. Meist bleiben die Sprecher bei einer Sprache und transferieren nur gelegentlich Wörter aus dem Spanischen ins Italienische. Findet jedoch Code-Switching statt, wird dieses meist vom entsprechenden Thema eingeleitet. So wechseln viele, besonders ältere Sprecher ins Italienische, wenn von ihrem Herkunftsort die Rede ist. Des Weiteren findet intraphrasales Code-Switching statt, wenn Wörter gebraucht werden, die in der Sprache und dem jeweiligen Kulturraum nicht existieren (vgl. Veith 2008: 181).

5. Fazit und Ausblick

Und eine Sprache vorstellen heißt, sich eine Lebensform vorstellen.

Dieses Zitat von Ludwig Wittgenstein (Wittgenstein 2013: PU 19) scheint perfekt auf die Situation in Argentinien zuzutreffen. Ein Land, das historisch von der Einwanderung von Menschen unterschiedlichster Herkunftsorte geprägt ist, hat bis heute in seiner Entwicklung vielfältige kulturelle und sprachliche Einflüsse aufzuweisen. Somit ist es auch nicht verwunderlich, dass Buenos Aires einen Stadtteil hat, der den Namen Palermo trägt. Und noch viel weniger verwunderlich ist, dass Buenos Aires nicht nur die Hauptstadt Argentiniens, sondern auch die Hauptstadt des Tango ist. Dieser Tanz mit seiner Musik und seinen Texten spiegelt die argentinische Kultur und Mentalität hervorragend wieder, vor allem jene der Porteños, derjenigen Einwohner der Hafenstadt Buenos Aires, die das Stadtbild maßgeblich prägen und durch die geographische Lage am Hafen auch in der Vergangenheit bedeutsam geprägt haben. So wie der Tango in den Straßen von Buenos Aires im alltäglichen Leben integriert ist, so machen sich die vielfältigen kulturellen Einflüsse auch in der sprachlichen Realisierung der Argentinier bemerkbar, sei es durch das Cocoliche, das Lunfardo oder durch die zahlreichen Italianismen, die sich im argentinischen Spanisch manifestiert haben und in der Aussprache einen Argentinier zweifelsfrei als einen solchen zu erkennen geben.

Gerade diese Interkulturalität Argentiniens, die sich in der Mentalität, der Topographie, der Kunst und Kultur sowie in der Sprache wiederspiegelt, machen den Reiz dieses Landes aus.

Ohne Zweifel wäre es besonders interessant, weiterführende Studien zur sprachlichen Situation des Italienischen in Argentinien durchzuführen, um zu erforschen, inwieweit die Italianismen auch in der jungen Generation beibehalten werden und in welchen Situationen und mit welchen Gesprächspartnern diese verwendet werden. Auch Sprachbiographien italienischer Sprecher verschiedener Generationen könnten interessante Auskünfte über die Entwicklung des Gebrauchs des Italienischen und seiner Dialekte geben. Darüber hinaus wäre es sicherlich auch sehr aufschlussreich eine Studie durchzuführen, die sich mit dem Italienischen der heutigen Generation in Argentinien beschäftigt und untersucht, inwieweit dieses nun vom argentinischen Spanisch und dem italienischen in Italien selbst beeinflusst wird, da Veränderungen durch das Internet, die sozialen Medien sowie der höheren Mobilität gegeben sind. In diesem Rahmen könnten interessante Erkenntnisse über die Auswirkungen dieser Veränderungen auf das Sprachrepertoire, Sprachkenntnisse sowie aktuelle Transfererscheinungen und Entlehnungen gewonnen werden. Ein Vergleich zur 1. Generation und dem Cocoliche wären hierbei ebenfalls äußerst aufschlussreich.

Sicherlich bietet sich nach wie vor eine breite Paillette an Forschungsmöglichkeiten zum Italienischen in Argentinien an, welche die neue, durch Vernetzung geprägte, sprachliche  Situation veranschaulichen können.

Vg. Kapitel 2.5.
Criollos sind die Nachkommen europäischer Immigranten in Lateinamerika (vg. Wunderlich 2014: 48)
(2016): PagellaPolitica. https://pagellapolitica.it/dichiarazioni/7121/a-buenos-aires-ci-sono-piu-italiani-che-a-bologna.
Annecchiarico, Sabatino Alfonso (2012): Cocoliche e Lunfardo: L'italiano degli argentini - Storia e lessico di una minoranza linguistica. Milano, Udine: Mimesis Edizione.
Calvi, Maria Vittoria (1995): Didatticadi lingue affini. Spagnolo e italiano. Mailand: Guerini Scientifica.
Engels, Kathrin (2012): Cocoliche als Mediensprache. Die Darstellung einer Lernvarietät im Theater des Río de la Plata-Raums. Freiburg: Rombach Verlag.
Ennis, Juan Antonio (2008): Decir la lengua: debates ideológico-lingüísticos en Argentina desde 1837. Frankfurt am Main: Lang.
Giacomazzi, Emanuela (2002): Il 'cocoliche': Un'espressione del contatto tr l'italiano e lo spagnolo in Argentina. Frankfurt am Main [u.a.]: Lang.
Gobello, José (1990): El lunfardo en la novela.
Lüdtke, Jens (2005): Kontaktvarietäten. In: Lenz, Alexandra/Mattheier, Klaus/ (Hrsg.): Varietäten. Thoerie und Empirie. Frankfurt am Main: Peter Lang.
Meo Zilio, Giovanni (1989): Estudios hispanoamericanos: temas lingüísticos. Roma: Bulzoni.
Moliner, María (1998): Diccionario de uso del español. Madrid: Gredos.
Pérez Gauli, Carmen (2002): El lunfardo. Frankfurt am Main: Lang.
Veith, Daniel (2008): Italienisch am Río de la Plata: ein Beitrag zur Sprachkontaktforschung. Frankfurt am Main [u.a.]: Lang.
Wittgenstein, Ludwig (2013): Philosophische Untersuchungen. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Wunderlich, Janka (2014): El lunfardo. Kontaktvarietät der Migrationskultur am Río de la Plata und in der Welt des Tango. Frankfurt am Main: Peter Lang. Internationaler Verlag der Wissenschaften.
sueddeutsche.de/beu/kaeb/bgr (2010): Argentinien-Land der verkleideten Italiener, Süddeutsche Zeitung.
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Eine Antwort

  1. Insgesamt sehr schön, gut recherchiert. Zur Varietätenlinguistischen Einordnung: gerade die Varianz je nach Sprecher und die Tatsache, dass es auf die 1. Generation beschränkt ist, zeigt sehr die Notwendigkeitdie Kompetenz des Sprechers (L2) als Dimension zu berücksichtigen, wie ich in mehreren Artikeln gefordert habe; schicke Dir gern die Angaben,
    Bitte ‚Etymologie‘, ohne ‚h‘
    Ein paar Kleinigkeiten – fuer den Fall, dass Du es allgemein veroeff. möchtest, folgen demnaechst

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