1. Die so genannte Sprachsoziologie
'Dialekte' sind in sich voll funktionstüchtige sprachliche Systeme ('Idiome') und insofern den 'Sprachen' vergleichbare Codes; es ist daher leicht verständlich, dass die Zuweisung eines sprachlichen Systems zur einen oder anderen Kategorie nicht immer unumstritten ist. Gleichwohl lässt sich nicht bestreiten, dass beide Arten von Idiomen sich in ihrem gesellschaftlichen Status grundlegend unterscheiden. Max Weinreich (1945) hat den Gegensatz im vielzitierten Aphorismus
anschaulich formuliert. Statusdefinition und -feststellung sind Gegenstand der so genannten Sprachsoziologie. Der (politisch leider nicht ganz unbelastete) Begründer dieser Teildisziplin der Sprachwissenschaft, Heinz Kloss, hat vorgeschlagen, den Sprachstatus eines Idioms auf zwei verschiedene Weisen abzusichern, entweder mit dem Kriterium des 'Abstand' oder aber mit dem des 'Ausbaus':
“Die Bezeichnung ‘Abstandsprachen’ will zum Ausdruck bringen, daß das betreffende Idiom als Sprache aufgrund seines Abstandes anerkannt wird, wobei natürlich nicht an räumlich-geographischen, sondern an sprachimmanenten, sprachkörperlichen Abstand gedacht ist. Die Bezeichnung ‘Ausbausprachen’ könnte umschrieben werden als ‘Sprachen, die als solche gelten aufgrund ihres Ausbaus, ihres «Ausgebautseins» zu Werkzeugen für qualifizierte Anwendungszwecke und -bereiche’. Sprachen, die in diese Kategorie gehören, sind als solche anerkannt, weil sie aus- oder umgestaltet wurden, damit sie als standardisierte Werkzeuge literarischer Betätigung dienen können. Eine Bezeichnung wie ‘Ausbau’ stellt auf gezielte Sprachpolitik ab und hilft uns, ein Mißverständnis zu vermeiden, zu dem der geläufigere und daher an sich näherliegende Ausdruck ‘Entwicklung’ leicht verführen könnte: daß nämlich ‘Ausbau’ statt durch systematische Sprachpflege und -planung ebensogut zustandekommen könne durch jenen langsamen, fast unmerklichen und völlig ungelenkten Sprachwandel, den wir als einen ‘natürlichen’ Prozeß zu bezeichnen pflegen.
Abstandsprachen werden auf Grund ihres linguistischen Abstandes von allen anderen lebenden Sprachen gleichsam ‘automatisch’, d.h. selbst wenn in ihnen keinerlei gedrucktes Schrifttum vorliegt, als ‘Sprachen’ anerkannt, weshalb ich in einer sehr frühen Veröffentlichung geradezu von ‘automatischen Sprachen’ gesprochen hatte. Die Ausbausprachen hingegen würden nicht als Sprachen, sondern nur als Dialekte behandelt werden, wären sie nicht das Ausdruckmittel einer vielseitigen, besonders auch eine beträchtliche Menge von Sachprosa umfassenden Literatur geworden.
Von der großen Mehrzahl aller heutigen Einzelsprachen kann man sagen, daß sie sowohl Abstand- wie Ausbausprachen sind; die zu dieser Mehrheit gehörenden Sprachen könnten gleichzeitig als ‘Auch-Abstandsprachen’ und als ‘Auch-Ausbausprachen’ bezeichnet werden, und als solche unterschieden werden von den ‘Nur-Abstandsprachen’ und ‘Nur-Ausbausprachen’.
Unter den Hoch- oder Kultursprachen kann es keine Nur-Abstandsprachen geben, da der Begriff ‘Hochsprache’ definitorisch den Zustand des Ausgebautseins impliziert. Wohl aber gibt es unter ihnen eine ansehnliche Minderheit, die als ‘Nur-Ausbausprachen’ gelten können, die m.a.W. als Dialekte einer bestimmten Bezugssprache gelten würden, wären sie nicht zu Werkzeugen einer nach allen Richtungen einschließlich der Sachprosa ausgebauten Literatur geworden.” (Kloss 1978, 25f.)
1.1. Ausbauprozesse
Kloss hat auch ein interessantes Modell entwickelt, um die Entwicklung des sprachlichen Ausbaus als Erschließung von “qualifizierte[n] Anwendungszwecke[n] und -bereiche[n]” zu typisieren. Sein Modell verbindet zwei Dimensionen, nämlich einerseits Diskurskonstellationen als Kombination von "Entfaltungssphären" und "Entfaltungsstufen" und andererseits Diskursgegenstände („Anwendungsbereiche“):
“Entfaltungssphären” | drei “Entfaltungsstufen” im Bereich der Sachprosa |
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(nach Kloss 1978, 38f.) |
1.2. Diskursgegenstände oder “drei hauptsächliche Anwendungsbereiche”
Kloss entwickelt hier eine Kategorisierung die auf inhaltlichen Bereichen und den unterschiedlichen Wissenswelten von Laien und wissenschaftlichen Experten beruht; er unterscheidet:
“die gruppenbezogenen oder besser, «eigenbezogenen» Themen aus dem eigenen Lebensbereich der betreffenden Sprachgemeinschaft: vor allem ihre Sprache, Literatur und Volkskunde, aber auch ihre Geschichte und Heimatkunde, einschließlich der Landwirtschaft, ihrer einheimischen Gewerbezweige, der heimatlichen Fauna, Flora usw.; [= E]
alle übrigen kulturkundlichen Fächer (humanities, «Geisteswissenschaften»), einschließlich (u.a.) Rechtswissenschaft, Philosophie, Theologie; [= K]
Naturwissenschaften und Technologie. [= N]
[...] Es sei betont, daß diese Dreiteilung der Entfaltungsstufen vorerst weniger zwingend ist als die der Anwendungsbereiche und daß sie durch andere Aufteilungen ersetzt werden könnte.” (Kloss 1978, 47)
Bekannt geworden ist die schematisierte Darstellung des Ausbaus, die Kloss aus der Verbindung von "Entfaltungsstufen" und "Anwendungsbereichen" ableitet; diesem Modell zufolge kann man die initiale Ausbauphase eines Idioms in der Verschriftung eines "eigenbezogenen" Themas (E) mit den einfachen Mitteln der "Alltagsprosa", d.h. für ein Laienpublikum indentifiziert werden (linke Graphik). Der vollständige Ausbau ist dagegen erst mit der Produktion naturwissenschaftlicher (N) Text für ein Forscherpublikum (F) erreicht. Dazu kommt es jedoch bei weitem immer, denn oft kommt der Ausbau nicht über die Schwelle der gelb markierten Konstellation (rechte Graphik) hinaus:
Der damit skizzierte Verlauf kann sich zweifellos auf eine gewisse intuitive Evidenz stützen, die sich übrigens auch im umgekehrten Prozess (der Kloss nicht interessiert) zeigt: Der Abbau den Schriftlichkeit beginnt ebenfalls in der zuletzt erschlossenen Konstellation FN, wie ein globaler Blick auf den gegenwärtigen Wissenschaftsbetrieb in vielen Sprachgemeinschaften bestätigen würde; Naturwissenschaftler schreiben eigentlich weithin nurmehr Englisch.
Allerdings eröffnen sich zahlreiche und grundsätzliche Fragen:
(1) Die Vorgehensweise führt unversehens in ein Dilemma, da sie zwar ein Ausbaukontinuum - 'von unten links nach oben rechts' - skizziert, aber gleichzeitig die Dichotomie 'Sprache' vs. 'Dialekt' aufrechterhält.
“Dort, wo weder sprachwissenschaftliche noch soziologische Gründe gegeben zu sein scheinen, den Status einer Sprachform als bloßer ‘Dialekt’ in Frage zu stellen, können wir von einem ‘Normaldialekt’ sprechen. Der Normaldialekt steht in sprachsoziologischer Hinsicht am einen Ende eines Kontinuums, an dessen anderem Ende die Ausbausprache steht. Denn wie es eine linguistische Mindest-Distanz gibt, die eine Sprache von der nächstverwandten Sprache trennen muss, damit sie als Abstandsprache gelten kann, so auch einen Mindestgrad des Ausbaus, den eine Sprachform erfahren haben muss, um als Ausbausprache gelten zu dürfen und nicht als Dialekt.” (Kloss 1978, 56)
1.3. Und trotzdem: Übergangsformen
Um Übergangstufen zwischen 'Sprache' und 'Dialekt' zu kennzeichnen, hat Kloss die Ausdrücke "Ausbaudialekt", "seit je scheindialektisierbar[e], aber heute volldialektisierte[e Abstandsprache]", "scheindialektisierbar[e] und scheindialektisiert[e] Abstandsprache]", "scheindialektisierbar[e], aber nicht (schein-)dialektisiert[e] Abstandsprache]" geprägt. Alle genannten Kategorien von Idiomen lassen sich in folgender Weise auf die beiden Dimensionen 'Ausbau' und 'Abstand' beziehen.
(2) Lässt sich der "Mindestabstand" überhaupt zuverlässig operationalisieren? Im Bereich der romanischen Sprachen ist doch - vom Rumänischen und vielleicht auch vom Standardfranzösischen abgesehen - theoretisch wohl jedes Idiom durch jedes andere dialektisierbar.
(3) Die Kategorie der 'scheindialektisierten Sprache' ist äußert problematisch; denn ein gesellschaftlicher Status, der als Maßstab für die Einordnung eines Idioms als 'Sprache' oder aber als 'Dialekt' gilt, kann und muss sprachenrechtlich konkretisiert werden; nahverwandte Idiome ohne jede juristisch einforderbare territoriale Amtlichkeit sind nicht 'scheinbar', sondern real dialektisiert.
1.4. Das sprachgeschichtliche Potential des Ausbaubegriffs
Die Sprachsoziologie wurde zwar ursprünglich in der Perspektive der Sprachplanung konzipiert, aber der Begriff des Ausbaus (ita. elaborazione) hat sich auch in der Sprachgeschichtsschreibung als so nützlich erwiesen, dass er mittlerweile unentbehrlich geworden ist. Trotzdem sind bei der Anwendung des Konzepts im historischen Kontext bestimmte nahe liegende Implikationen zu vermeiden. Insbesondere suggeriert der Begriff, die stark positiv bewertete Vorstellung einer teleologischen Entwicklung, die unweigerlich auf einen Vollausbau und die Herstellung von Einsprachigkeit in der Schriftlichkeit hinausläuft. In diesem Sinn werden 'Vollausbausprachen' oft (und oft in unausgesprochener Weise) als die 'eigentlichen' und 'besseren' Sprachen angesehen; in anderen Fällen wird der Ausbau womöglich als 'gescheitert' betrachtet. Ausbauprozesse können in ein und derselben Gemeinschaft durchaus gleichzeitig in mehreren Idiomen vorangetrieben werden, ohne dass durch diese Mehrsprachigkeit die soziale Identität der Gemeinschaft, die den Ausbau trägt, in Frage gestellt werden müsste.
Missverständlich, besser: schwer zu fassen ist die für den initialen Ausbau bei Kloss fundamentale Kategorie des 'Eigenen' (E). Die sprachliche Eigenständigkeit ist unter Umständen nicht die Voraussetzung von Ausbauprozessen, sondern das historische Produkt einer ursprünglich nicht sprachlich, sondern politisch, religiös usw. konstituierten Gruppe, deren Identität am Beginn der Ausbauprozesse primär über nicht-sprachliche Aspekte gestiftet wird.
Entsprechend gewappnet ist es nun vielversprechend den regionalen Ausbau der Schriftlichkeit z.B. in den über Jahrhunderte existierenden Republiken von Genua und Venedig zu untersuchen - sich dabei von vorneherein auf den Ausbau des Genuesischen bzw. des Venezianischen zu beschräken. Die immer wieder gestellte Frage, ob 'das' Venezianische denn 'eigentlich' eine Sprache oder aber 'nur' ein Dialekt sei (vgl. Marcato & Ursini 1998), erweist sich vor diesem Hintergrund letztlich als durchaus sekundär.