1. Die areale und die territoriale Ebene
Das Italienische1 lässt sich wie so viele andere 'große' europäische Sprache als ‘zweistöckige Architektur’ beschreiben: über einer Ebene arealer Dialekte und Kleinsprachen liegt die Standardsprache als nationale Bezugssprache auf der Ebene der staatlichen Territorien. Der Sprachname, oder: das Glottonym, Italienisch ist daher doppeldeutig, wie zahlreiche andere Sprachnamen auch, denn es bezeichnet sowohl die überdachende Standardvarietät als auch das Gefüge der überdachten Nonstandard-Varietäten, insbesondere der zahlreichen und stark divergierenden Dialekte. Italien lässt sich als Sprachraum also etwa in Gestalt der folgenden Karte darstellen:
Offiziellen Status hat die ital. Standardvarietät über die Ital. Republik hinaus in der Schweiz (vgl. Moretti 2011), genauer gesagt im Kanton Tessin und drei Südtälern des Kantons Graubünden: Misox (ital.: Mesolcina), Bergell (ital.: Bregaglia) und Puschlav (ital.: Poschiavo). Dort werden ebenso wie in Teilen Kroatiens, nämlich in Istrien (vgl. Crevatin 1989) und (in nurmehr spärlichen Resten) in Dalmatien (vgl. Barbarić 2015) italienische Dialekte gesprochen.
Es ist nun wichtig darauf hinzuweisen, dass die romanischen Dialekte der 'unteren', arealen Ebene nicht deshalb unter dem Oberbegriff 'Italienisch' zusammengefasst werden, weil sie der territorialen Sprache so ähnlich wären. Diese Zusammengehörigkeit resultiert aus dem gemeinsamen Bezug der vorwiegend, aber nicht ausschließlich, mündlich gebrauchten Dialekte auf die in der Schriftlichkeit des gesamten Territoriums und in formellen Kontexten vorherrschende Standardsprache, von der sie gewissermaßen überdacht werden. Im alltagssprachlichen Gebrauch wird die Territorialsprache oft kurz als lingua bezeichnet und dem dialetto auf der arealen Ebene gegenübergestellt. Man vgl. z.B. aus einem Blog zum Bolognesischen:
"Qui ho raccolto una trentina di similitudini che ho diviso in due gruppi: quelle che, uguali o molto simili, troviamo anche in lingua e quelle che, per quanto mi risulta, abbiamo solo nel nostro dialetto (e forse in altri)." (Quelle; Hervorhebung Th.K.2)
Diesen Sprachgebrauch sollte man in wissenschaftlichen Kontexten vermeiden, denn beide Ebenen bilden ein Gefüge, dessen Zusammengehörigkeit man am besten dadurch zum Ausdruck bringt, dass man von einer historischen Sprache3 Italienisch redet, die sich aus unterschiedlichen, funktional miteinander verflochtenen Varietäten konstituiert, nämlich einer Standardvarietät auf territorialer Ebene und lokalen bzw. regionalen Varietäten oder Dialekten auf der arealen Ebene. Über die relativen Unterschiede und Ähnlichkeiten ist damit nichts gesagt.
Die bisher genannten Areale sind - vom heutigen Kroatien abgesehen - Teil des romanischen Dialektkontinuums, das - grosso modo - von der frz., span. und port. Atlantikküste bis an die italienisch-österreichische und italienisch-slowenische Grenze reicht. Es hat sich im Gefolge der Jahrhunderte dauernden Expansion des Römischen Reichs (ca. 5. Jh. vor Chr. - 117 n. Chr.) entwickelt; Grundlage sind regionale und dann auch lokale Varietäten des Lateinischen, die sich in den romanisierten Gebieten entwickelt haben. Sie werden in der Forschung mit einem missverständlichen, aber fest etablierten Ausdruck als ‚vulgärlateinisch‘ bezeichnet.
Über die genannten Gebiete hinaus werden italienische Varietäten in zahlreichen Migrationskontexten [vgl. cite key=bernini2010 nopar=true]) Europas, Amerikas und Australiens gesprochen, wie die folgende Karte zeigt:
Aus varietätenlinguistischer Sicht ist die Situation der emigrierten Italiener außerordentlich komplex und jeweils im Rahmen der Aufnahmegesellschaften zu besprechen. Teils handelt es sich um Dialekte, die aus Italien mitgenommen wurden und sich sekundär im Kontakt mit den Sprachen der neuen Umgebungen verändert haben bzw. weiterhin verändern - wie zum Beispiel in Südamerika - und die auch auf diese neuen Umgebungssprachen Einfluss nehmen; in manchen Gemeinden der Bundestaaten im Süden Brasiliens (vor allem Rio Grand do Sul und Santa Catarina) ist aus immigrierten Venetodialekten unter dem Namen talian eine Schul- oder sogar komplementäre Amtssprache (lingua co-oficial) geworden. Teils sind die Migranten, vor allem in jüngster Zeit, jedoch auch (oder ausschließlich) Sprecher des Standarditalienischen.
Aus der zweistöckigen Modellierung lässt sich nun der Gegenstand einer diachronischen und synchronischen Kommunikationsraumforschung ('Glossotopik') entwickeln.
2. Synchronische Beschreibung der arealen Ebene
In synchronischer Perspektive zielt die Sprachwissenschaft einerseits auf die lokalen Sprachsysteme, d.h. die Ortsdialekte, und andererseits auf ihre Unterschiede/Ähnlichkeiten, d.h. auf das Dialektkontinuum; insbesondere soll dadurch die großräumigere Gliederung der Sprachlandschaft herausgearbeitet werden. Zu diesem Thema gibt es sehr viel Literatur; nützlich sind die beiden Handbücher von Grassi & Sobrero & Telmon 1997 und Loporcaro 2009 sowie der Überblicksartikel in der Wikipedia. Einen ersten Zugang zu den wichtigsten Gliederungsmerkmalen, auf die noch ausführlich eingegangen wird, gibt Avolio 2009, 45-59.
Von vornherein ist auf einen substantiellen Unterschied zwischen den Raumstrukturen der beiden komplementären Ebenen hinzuweisen. Er ergibt sich daraus, dass zwischen den mehr oder weniger streng standardisierten Territorialsprachen scharfe Grenzen bestehen, während eine Grenzziehung auf arealer Ebene nur zwischen unterschiedlichen Sprachfamilien, aber innerhalb einer Sprachfamilie möglich ist. So hat lat. aqua(m) [ˡakwa] 'Wasser' im Standardfra. eau [o] und im Standardita. acqua [ˡakkwa] ergeben.
Auf der arealen Ebene verschwindet diese Grenze, da beiderseits der Territorialsprachgrenze sehr ähnliche Typen belegt sind; einen (von mehreren) dieser Typen im Südostfrankreich und Nordwestitalien, nämlich die Formen mit betontem /e/ und bilabialem Approximanten /w/ bzw. labiodentalem Frikativ /v/ in den Kognaten von lat. aqua(m), zeigt die Gegenüberstellung zweier Ausschnitte aus dem und dem :
Die letzte Abbildung zeigt aber auch, dass es leider immer noch nicht möglich, sich die Atlasdaten unterschiedlicher (im Idealfall: aller) romanischer Sprachen über ein einziges Portal in frei wählbaren regionalen Ausschnitten anzeigen zu lassen (eine solche Funktion baut das Projekt VerbaAlpina für den alpinen Sprachraum auf).
Trotz dieser offenkundigen Inkongruenz wurde die areale Ebene in der Forschungstradition also nach dem Maß der Territorialsprachen, bzw. der entsprechenden staatlichen Territorien zugeschnitten; so gibt es ein monumentales Französisches etymologisches Wörterbuch (, online), das keineswegs ein Lexikon des Französischen, sondern der romanischen Dialekte Frankreichs ist - mit Ausnahme des Katalanischen, obwohl es vom Okzitanischen auf arealer Ebene nicht zu trennen ist: Dialekte wurden (und werden teils noch immer) im politischen Verständnis als nationales kulturelles Erbe ('patrimonio nazionale') betrachtet.
Bei der Beschreibung kommen Arbeitsinstrumente und Methoden zum Einsatz, die auch aus einer nicht raumbezogenen Vorgehensweise bekannt sind, so etwa die Grammatik oder das Wörterbuch; hier kann weiterhin zwischen ganz lokalen oder immerhin regionalen Konzeptionen unterschieden werden.