1. Ein "mittlerer Bereich"?
Die zweistöckige Modellierung des sprachlichen Raums mit einer dialektal stark fragmentierten arealen und einer überdachenden Ebene, ist insofern vereinfachend als sie territoriale Einheitlichkeit der Dachsprache nahelegt. In Wirklichkeit ist jedoch auch die territoriale Ebene durch räumliche Variation gekennzeichnet. Diese unübersehbare Tatsache hatten schon die Herausgeber des AIS klar gesehen und als "regionale Form der Gemeinsprache" bezeichnet:
„Unter regionaler Form der Gemeinsprache verstehen wir die provinziell gefärbte Schriftsprache, also z.B. das, was man in Frankreich und in der Westschweiz ‚Volksfranzösisch‘ (‚français populaire‘) nennt." (Jaberg & Jud 1928, 182)
Allerdings hat diese Einsicht gerade keinen Einfluss auf die Konzeption des Atlas genommen. Erst Ende der 50er Jahre, in der sehr wichtigen Pionierarbeit von Robert Rüegg wurde die räumliche Variation der italienischen Dachsprache zum Gegenstand wissenschaftlicher Forschung. Als den eigentlichen Begründer dieser Forschungsrichtung darf man jedoch Giovan Battista Pellegrini ansehen. Er schlägt vor, die Opposition von Sprache und Dialekt zwar nicht aufzugeben, aber beide Ebenen zu differenzieren:
• italiano comune | LINGUA | |
• italiano regionale | ||
• dialetto regionale 1 | DIALETTO | |
• dialetto locale | ||
(vgl. Pellegrini 1975 [1959], 40 und Pellegrini 1990) |
Grosso modo ist diese Konstellation das Ergebnis eines Varietätenkontakts zwischen Standardvarietät (lingua comune) und arealen Varietäten (dialetto locale). Geradezu selbstverständlich ist die Einwirkung der Dachsprache auf die Dialekte, die durch Italianisierung zur Entwicklung des dialetto regionale führt:
"Il sottofondo dialettale, sempre latente, anche se il dialetto è ormai insidiato, specie nella pratica quotidiana delle grandi città, ha reagito ovunque determinando una varia coloritura dell'italiano che possiamo pertanto definire regionale e che corrisponde sostanzialmente alle aree (s'identificando spesso, non sempre, con le regioni attuali) dell'Italia dialettale." (Pellegrini 1975 [1959], 20)
Allerdings finden sich in umkehrter Richtung eben auch Reflexe des Dialekts in der Dachsprache, die – durch Dialektalisierung – zur Herausbildung des italiano regionale geführt haben. Unabhängig davon, ob man die Vorstellung einer klaren Trennung zwischen italiano einerseits und dialetto andererseits beibehält, oder sie zu Gunsten einer rein kontinualen Konzeption aufgibt, wird in jedem Fall gewissermaßen ein "mittlerer Bereich"2 identifiziert:
Obwohl kontaktinduzierter Wandel also in beide Richtungen stattfindet, ist keine Symmetrie zwischen diesen beiden Kontaktrichtungen gegeben. Die jeweiligen Präferenzen hat Tullio Telmon im folgenden Schema typisiert:
DIALETTO | → | intonazione | → | ITALIANO |
→ | fonetica | → | ||
← | morfologia | ← | ||
↔ | sintassi | ↔ | ||
↔ | lessico | ↔ | ||
→ | fraseologia | → | ||
(aus: Telmon 1997, 101) |
Telmon, der eine noch weitergehende Differenzierung des mittleren Bereichs zwischen italiano comune und dialetto locale vornimmt, illustriert die unterschiedlich 'tief' (lingua → dialetto) bzw. 'hoch' (dialetto → lingua) in die jeweils entgegengesetzte Richtung reichenden Kontakteffekte an einem (vermutlich nicht direkt aus Daten abgeleiteten) Beispiel aus den Abruzzen:
1 | ho | mangiato | troppo | ora | sono | sazio | e | devo | prendere |
2 | ho | mangiato | troppo | adesso | sono | abboffato | e | devo | pigliare |
3 | #sono | mangiato | troppo | mo | sso' | abbottato | e | #ho da | pigliare |
4 | #sso' | magnato | troppo | mo | sso' | abbottato | e | tengo a | piglià |
5 | sto | magnato | troppo | mo | sto | abbottato | e | tengo a | piglià |
6 | ∫to | magnato | troppo | mo | ∫to | abbottato | e | teng a | piglià |
7 | ∫to | magnèto | troppo | mo | ∫to | abbottèto | e | teng a | |
8 | [ˡʃtɛŋgə | maˡɲɛːtə | ˡtrɔppə | mo | ʃtɛŋgə | abːoˡtːtatə | e | ˡteŋg a | piˡʎa] |
MORPH. | PHONETIK | LEXIK, PHRASEOLOGIE | |||||||
(nach: Telmon 1997, 119) |
Man beachte auch, dass nicht alle Formen des mittleren Bereichs aus den lokalen Dialekten stammen; in diesem Beispiel gilt das für das Tempusauxiliar essere und das Modalverb avere da (beide mit # gekennzeichnet). Ausgehend von den drei Varianten des Tempusadverbials (ora, adesso, mo) macht Telmon eine Bemerkung, die auf einen grundsätzlich beachtenswerten Aspekt des italiano regionale aufmerksam macht, nämlich die gelegentlich - aber keineswegs immer - zur diatopischen hinzutretende diastratische Markierung3:
"L’uso alternativo di ora, adesso, e mo, dove l’ultimo lessema è, nella regione considerata, al stesso tempo il più diffuso e il più popolare, mentre il primo appartiene al linguaggio molto sorvegliato e il secondo, oltre a riferirsi a un linguaggio più sorvegliato, è considerato sociolinguisticamente più prestigioso e perciò usato, più ancora che delle classi più alte, da quelle medio-basse alla ricerca di simboli che ne denotino la salita sociale." (Telmon 1997, 118)
Die Zeilen 2—7 des Schemas dürfen nicht als mögliche Realisierungen stabiler Varietäten angesehen werden; vielmehr sollen sie einen Eindruck von mehr oder weniger wahrscheinlichen Kombinationskonstellation der einzelnen Varianten geben; charakterisch für den mittleren Bereich ist gerade seine ausgeprägte, wenig stabile Variabilität. Darauf hatte ebenfalls bereits Giovan Battista Pellegrini aufmerksam gemacht:
italiano comune | italiano regionale | dialetto regionale | dialetto locale |
più uniforme | vario | vario | più uniforme |
LNGUA | DIALETTO | ||
Le quattro tastiere (Pellegrini 1975 [1959], 40) erweitert nach Pellegrini 1990) |
Sehr klar gesehen werden auch die unterschiedlichen Dimensionen, in denen Variation verortet werden kann; Pellegrini differenziert soziale, d.h. sprachbezogene, und individuelle, d.h. sprecherbezogene Kriterien:
"L'italiano regionale non è ovviamente una entità immutabile poiché esso è anzi estremamente vario e fluido tanto che non è agevole poterlo fissare in schemi precisi; è una formula utile per caratterizzare le varianti locali della lingua nazionale nell'uso medio e parlato, non senza alcune propaggini nell'uso scritto più dimesso (ad esempio nel linguaggio pubblicitario ecc.); esso varia a seconda delle conoscenze linguistiche, della cultura, degli atteggiamenti sociali, o delle esigenze e del desiderio di sregionalizzazione dei singoli parlanti." (Pellegrini 1975 [1959], 14)
Eine korpusbasierte Verifizierung und Operationalisierung der intuitiv überzeugenden Modellierung durch Pellegrini und Telmon steht aus, da es an einer, den Dialektatlanten vergleichbaren Datenbasis fehlt. Erst mit der Bereitstellung einer breiten Dokumentation wären die Bedingungen geschaffen, um die beiden grundlegenden Fragen zu beantworten, die sich im Hinblick auf den mittleren Bereich im Allgemeinen und das italiano regionale im Besonderen erheben:
- Welche räumliche Einteilung lässt sich erkennen?
- Was ist der variations- bzw. varietätenlinguistischen Status der beobachteten Variation?
1.1. Dokumentation
Großräumige Datenerhebungen im Stile der nationalen Dialektatlanten wurden, wie gesagt, bislang nicht unternommen und sind in traditioneller Manier auch nicht mehr zu erwarten. In jüngster Zeit werden dagegen zunehmend die Neuen Medien für die Datenerhebung eingesetzt; als attraktive Alternative zur klassischen Feldforschung erweist sich insbesondere das sogenannte crowdsourcing4. Ein mögliches Modell für das Regionalitalienische liefert ein interessantes Projekt, das dem Modell des Atlas der deutschen Alltagssprache (AdA) von Stefan Elspaß und Robert Möller folgt (♦) und sich ebenfalls der Optionen der Web-Technologie bedient, nämlich der Atlante della lingua italiana quotidiana (ALIQUOT) von Michele Castellarin und Fabio Tosques (seit 2013). In regelmäßigen Kampagnen werden vor allem lexikalische Materialien erhoben; wie das Formular zur derzeit aktuellen 6. Runde zeigt, werden auch etliche sprecherbiographischen Daten abgefragt. Die Anlage des Projekts lässt räumliche Verteilungen klar hervortreten; in der 'Alltagssprache' koexistieren regional hochspezifische und vollkommen unspezifische Geosynonyme (vgl. Regis 2010). Ein gutes Beispiel sind die Bezeichnungen der APRIKOSE; einerseits sind Varianten im gesamten nationalen Territorium vertreten und zwar teils durchgängig (hier: albicocca), teils sporadisch (hier: [a]pricó), andererseits findet sich die auf das Trentino und Veneto beschränkte Variante armelina, die auch im Dizionario del dialetto veneto von Giuseppe Boerio belegt ist (♦). Man beachte, dass laut Boerio im Dialekt jedoch die maskuline Variante armelin gilt: Das Wort wurde also dem italienischen Paradigma angeglichen, denn Obstbezeichnungen sind im Standard stets feminin; das venezianische Dialektwort verhält sich, mit anderen Worten, wie eine Entlehnung.
Allerdings sind auch die Grenzen des ALIQUOT offenkundig, denn es tritt ja nur dort Varianz zu Tage, wo sie von den Herausgebern bereits vorab, bei der Erstellung der Fragebögen, vermutet wurde; in der Regel werden ja bei der Anfrage schon mehrere Varianten zur Auswahl vorgegeben (vgl. die sesta inchiesta). Zwar hat der Nutzer die Möglichkeit weitere Bezeichnungen einzugeben, nicht jedoch weitere Konzepte. Im Beispielfall wäre es ja interessant, wie der entsprechende Baum bezeichnet wird, denn im Venetodialekt gilt nicht die Opposition zwischen einer femininen Form (z.B. albicocca) für die Frucht und einer maskulinen (albicocco) für den Baum, sondern neben der maskulinen Fruchtbezeichnung (armelin) steht eine suffixale Ableitung für den Baum (venez. armelinér)5. Es ist durchaus anzunehmen, dass einem Nutzer diese naheliegende Assoziation kommt, und es ist schade dass entsprechende Erweiterungen nicht berücksichtigt werden können. Eine entsprechende Möglichkeit BEGRIFFE hinzuzufügen ist in der Crowdsourcing-Funktion von VerbaAlpina angelegt (vgl.: Wählen Sie eine Gemeinde aus > Wählen Sie einen Begriff aus > + Begrifff vorschlagen). Die ALIQUOT–Daten zeigen auch, dass raumbildende Ausdrücke nicht unbedingt eine areale Entsprechung haben müssen, denn sie finden sich auch unter den Bezeichnungen moderner Konzepte; man vergleiche den piemontesischen Typ cicles auf der Karte GOMMA DA MASTICARE oder den im wesentlichen lombardischen Typ sbianchetto auf der Karte BIANCHETTO.
Über das Diatopische hinausgehende Markierungen werden im ALIQUOT nicht explizit erhoben, wenngleich sie von den Herausgebern bis zu einem gewissen Grad aus den biographischen Daten abgeleitet werden können; sie erscheinen jedoch nicht an der Oberfläche und können auch von den Nutzern nicht abgefragt werden. Das Projekt wird also dem mehrdimensionalen Variationsraum nicht wirklich gerecht. Außerdem wäre eine Ansicht interessant, in der ähnliche Verbreitungsgebiete quantitativ dargestellt werden könnten.
1.2. Räumliche Einteilung
Wenig klar ist die Frage, wie viele und welche italiani regionali zu unterscheiden seien; im Hinblick auf die erwähnte wenig stabile, aber ausgeprägte Varianz könnte es sogar als sinnvoll erscheinen, auf eine derartige Klassifikation ganz zu verzichten. In jedem Fall ist auch hier mit starken regionalen Unterschieden zu rechnen, die mit ganz unterschiedlichen Faktoren zusammenhängen. Schon Pellegrini selbst hält fest, dass die Annahme von vier 'Sektionen' (italiano comune | italiano regionale | dialetto regionale | dialetto comune) überhaupt nur in Gegenden mit vitalen Dialekten sinnvoll ist. Mit stark markiertem Regionalitalienisch war daher 1975 (und ist noch heute) im Veneto und in Sizilien zu rechnen:
"Possiamo essere fin d'ora certi che le regioni in cui il dialetto è più profondamente abbarbicato in tutti gli strati della popolazione sono le Tre Venezie e forse la Sicilia." (Pellegrini 1975 [1959], 13)
Etwas weiter gefasst, steht der klaren Opposition italiano vs. dialetto im stark dialektal geprägten Norden und Süden ein eher kontinuales Mittelitalien gegenüber, in dem die Grenze zwischen den beiden Grundvarietäten stark verschwimmt:
"In altre parole: mentre nell’Italia settentrionale e meridionale le due facce del linguaggio, da un lato la lingua, pur nell’aspetto dimesso e scorretto dell’italiano regionale, e dall’altro il dialetto, nella sua veste nobilitata, sono ancora ben riconoscibili e definibili, nell’Italia mediana, e in particolare a Roma, l’italiano parlato si confonde e sfuma continuamente (e inavvertitamente) nel vernacolo locale." (Pellegrini 1975 [1959], 24f.)
Besondere Bedingungen gelten wegen der historischen Abkunft des Standards aus dem Florentinischen auch für die Toskana:
"[…] una posizione del tutto particolare presentano ovviamente i toscani per i quali le quattro sezioni si riducono di norma a due, e si ha, per lo più una contrapposizione di vernacolo toscano (delle città e del contado, con diffenrenziazione locale) a lingua." ( , 12, Anm. 2)
Weiterhin muss die häufige, allzu allgemeine Redeweise vom meridione differenziert werden; auf dem Festland gilt als Referenzvarietät das Italienische neapolitanischer Provenienz:
"Centro unificatore o meglio modello di alto prestigio per tante parlate non soltanto campane è rappresentato da Napoli e, come si sa, qui si può parlare di espansione idiomatica del napoletano e di formazione di una specie di coiné italianizzante fondata sul dialetto della metropoli." (Pellegrini 1990, 18)
Das Regionalitalienische von Kampanien und speziell natürlich von Neapel gilt daher auch "al di là della regione come un generico ‘italiano meridionale’", außer dort, wo es auf sehr verschiedene phonetische Bedingungen in den Dialekten trifft (etwa in Gestalt der Diphthongierungen des Apulischen), oder wo ihm die ausgeprägte "personalità del siciliano" (Varvaro zit. in: Pellegrini 1990, 18, Anm. 20) entgegen steht. Der eigentliche Grund ist aber zunächst wohl außersprachlicher Natur, denn die maßgeblichen Metropolen der Insel sind Palermo und Catania - und eben nicht Neapel, an dem man sich zwar bis nach Kalabrien und Apulien orientiert, aber auch nicht darüber hinaus.
Wieder andere Verhältnisse herrschen in Sardinien; die Pilotstudie von Noemi Piredda 2013 zeigt, dass zumindest im Bereich der Phonetik mit einer geradezu lokalen Differenzierung des Italienischen zu rechnen ist, so dass die starke Fragmentierung der Sprachareale Sardiniens (sassarese, gallurese, logudorese, nuorese, campidano, tabarchino etc.) durchscheint.
1.3. Variations- bzw. varietätenlinguistischer Status
Die Frage, wie die räumliche Variation auf der Ebene der italienischen Dachsprache (lingua) variations– und varietätenlinguistisch zu verorten sei, ist sehr grundsätzlicher Natur und zwingt letztlich zur Revision mancher etablierter Modelle. Zunächst muss bedacht werden, dass sich der mittlere Bereich und speziell das Regionalitalienische nicht ausschließlich und vielleicht nicht einmal in erster Linie als fest konventionalisierte Varietät verstehen lässt; es handelt sich vielmehr um durchaus unterschiedliche Konstellationen individueller Variation, die zwar Gemeinsamkeiten aufweisen, aber keinesfalls - wie etwa Dialekte - auf identische Systeme zurückgeführt werden können.
Sodann ist die phonetische und in geringem Maße auch lexikalische Regionalität im konkreten, mündlichen Gebrauch des Italienischen allgegenwärtig, so dass die Annahme eines generell im gesamten nationalen Territorium präsenten italiano comune als stark idealisierend angesehen werden muss. Vielen, gerade auch gebildeten und sozial privilegierten Sprechern steht eine solche Varietät gar nicht zu Verfügung. Daraus können nun zwei Konsequenzen gezogen werden: Die Bestimmung des Standards ist zu überdenken, und neben der Räumlichkeit der Sprache ist auch die Räumlichkeit des Sprechers bei der Diskussion um das italiano regionale einzubeziehen.