Da die Sprachgeschichtsschreibung vor allem im Hinblick auf die Phase der frühen Differenzierung und Ausgliederung unweigerlich eine raumbezogene Perspektive einnehmen muss (♦), ist es verständlich, dass sie in Anlehnung an die Geologie den Ausdruck Stratum übernahm und frühen Sprachkontakt sozusagen stratigraphisch, d.h. als sich überlagernde 'Schichten' beschrieb. Dabei werden meistens zwei verschiedene diachrone Konstellationen unterschieden, nämlich Substrate und Superstrate (zur Strataforschung vgl. Krefeld 2003).
1. Substratsprachen
Als Substrat bezeichnet man historisch frühere, nicht mehr gesprochene Sprachen eines bestimmten Gebiets sowie deren Reste in den Sprachen, von denen sie in diesem Areal vollständig verdrängt wurde. Der Ausdruck scheint auf den italienischen Linguisten Isaia Graziadio Ascoli (1829-1907) zurückzugehen (vgl. Terracini 1961).
Die Annahme eines Substrats setzt also den vollständigen Sprachwechsel der zugehörigen Sprechergemeinschaft voraus; allerdings ist dieser Sprachwechsel im Substratgebiet keineswegs mit einem Sprachtod gleichzusetzen, denn die Sprachen können in anderen Gegenden durchaus noch vital geblieben sein. So ist das zur keltischen Sprachfamilie gehörende Gallische zwar in der europäischen Romania überall durch das Lateinisch-Romanische übersetzt worden; aber in Irland, Schottland und Wales sowie in der Bretagne werden noch heute keltische Sprachen gesprochen (das Bretonische ist nicht in Kontinuität des antiken Keltischen zu sehen, sondern auf eingewanderte britische Kelten zurückzuführen).
Die Substratsprachen des Lateinischen sind oft schlecht oder gar nicht belegt; gelegentlich sind aus der Antike nur die Namen von Völkerschaften in bestimmten Regionen überliefert. Solche Namen erhalten sich allerdings unter Umständen sehr lange und überdauern auch mehrfachen Sprachwechsel der Bevölkerung. Ein berühmtes Beispiel ist das Tropaeum Alpium , ein Siegesdenkmal, das Augustus nach der Eroberung des Alpenraums errichten ließ (6./7. v. Chr.). Dort werden 46 unterworfene Stämme namentlich erwähnt; mehrere dieser Namen lassen sich bis heute in der alpinen Toponomastik leicht identifizieren.
Stammesnamen des Tropaeum | aktueller Name |
TRVMPILINI | Val Trompia |
CAMVNNI | Val Camonica |
VENOSTES | Vintschgau |
BRIXENTES. | eventuell Brixen (ita. Bressanone) |
LEPONTI | Val Leventina |
ISARCI | vgl. die Flussnamen Isar, Isarco, Isère |
BREVNI | vgl. den Passnamen Brenner |
CATURIGES | Ortsname Chorges ( Dep. Hautes Alpes bei Gap) |
Die Rückführung mancher sprachlicher Formen, speziell im Bereich des Lexikons, auf Substrate ist gelegentlich unvermeidlich, selbst dann, wenn es nicht möglich ist, diese eigentliche Herkunftssprache zu identifizieren (vgl. die Bezeichnungen der GÄMSE).
Konstellationen, in denen Germanisch als Substrat des Romanischen auftritt sind selten und spielen nur eine marginale Rolle; allenfalls lassen sich die Gebiete Ostfrankreichs nennen (Lothringen), in denen früher rhein- und moselfränkische Dialekte gesprochen wurden, die vor allem seit 1945 sehr stark durch das Französische verdrängt worden sind (♦). Lateinisch-Romanisch ist dagegen in den heute deutsch- bzw. niederländischsprachigen Gebieten, die ehemals zum Römischen Reich gehörten, ein wichtiges Substrat (Belgien, Luxemburg, West- und Südwestdeutschland, die alemannische Schweiz, Bayern südlich der Donau, Österreich und Südtirol); diese Gegenden gehören also zur ‘untergegangenen Romania’ (oder: ‘Romania submersa’) .
2. Superstratsprachen
Regional etablierte Sprachen werden im Fall einer Eroberung der jeweiligen Region keinesfalls immer verdrängt; nicht selten entsteht im Gefolge der Eroberung eine nur vorübergehende regionale Zweisprachigkeit, die dadurch verschwindet, dass die Eroberer selbst die Sprache der Eroberten übernehmen. In diesem Fall kommt es also zu keinem regionalen Sprachwechsel. Allerdings hinterlässt auch die zeitweise Geltung einer solchen bezeichneten Eroberersprache ihre Spuren in der weiterhin überlieferten einheimischen Regionalsprache. Walther von Wartburg hat dafür den Ausdruck Superstrat geprägt.
Die germanischen Sprachen haben die Ausgliederung der romanischen Sprachen vor allem in Superstratkonstellationen beeinflusst.
3. Adstrat
Substrate und Superstrate stehen also im historischen Rückblick für durchaus verschiedene Kontaktszenarien. Entscheidend für das Verständnis ihrer sprachlichen Effekte, d.h. der Entlehnungen, die sie in die jeweils weitergeführten Sprachen vermitteln, ist jedoch nicht die 'Abfolge' der Strata, das 'Vorher' und 'Nachher' der sprachlichen 'Schichten', sondern vielmehr die mehr oder weniger lange Phase des 'Neben'- und 'Miteinanders': Die Bedingungen des Sprachkontakts sind ja in der Art und Weise zu suchen, wie Sprecher der betroffenen Sprachen im Alltag interagierten und welche Formen zweisprachiger Kompetenz sich entwickelten. Solche koexistierende Sprachen können mit einem von Marius Valkhoff geprägten Ausdruck als Adstrat bezeichnet werden.
Die genauere Untersuchung diachronischer Kontaktszenarien führt daher unausweichlich in (vergangene) Synchronie. Daher ist es auch für Sprachgeschichtsschreibung wichtig, die Modellierungen von Zwei- und Mehrsprachigkeit zur Kenntnis zu nehmen, die für die synchronische Linguistik (Soziolinguistik, Sprachsoziologie, Spracherwerbsforschung u.a) entwickelt wurden; denn womöglich liefern sie nützliche Beschreibungsparameter.